Mittlerweile sind bereits sechs Wochen seit der russischen Invasion in die Ukraine vergangen, ohne dass Anzeichen erkennbar wären, die auf ein schnelles Ende der Barbarei Russlands hindeuten. Die täglichen Bilder aus der Ukraine von zerbombten Wohnhäusern, Angriffe auf Kliniken, Millionen von Familien auf der Flucht und tausende eingekesselte Menschen verändern grundlegend unsere Wahrnehmung und rütteln an Privilegien in Mitteleuropa.
Spreche ich mit meinen Eltern über den Krieg in der Ukraine, so wirkt es für sie wie ein Alptraum, der sich erneut in einem anderen Ort der Welt abspielt: Sie selbst haben das Leid, welches die UDSSR mit ihrer Invasion am 26.12.1979 in Afghanistan über die gesamte Nation in mehr als zehn Jahren brachte noch sehr genau in Erinnerung. Ich persönlich habe das Grauen des Bürgerkriegs und die Anfänge des Taliban-Regime erlebt und erinnere mich nur zu gut als Kabul eingekesselt von einem Dutzend unterschiedlicher Gruppierungen dem Erdboden gleich zerbombt wurde. Nur zu gut können wir in der Familie, die selbst als Opfer des Kriegs zu Flüchtlingen wurden, das Leid und den Schmerz der Ukrainer nachempfinden.
So ähnlich die Bilder des Leids und Unrechts sich von Afghanistan über Irak und Syrien bis hin zu Ukraine sind, so sehr scheint vieles im Ukrainekrieg anders zu sein: Bereits in den ersten Tagen dieses fürchterlichen Kriegs in der Ukraine hieß es hastig seitens amerikanischer oder britischer Journalist:innen, die Ukraine sei „kein Dritte-Welt-Land“, sondern eher „europäisch“ und „zivilisiert“. Gleich einige Tage später setzt ein ehemaliger hoher ukrainischer Staatsbediensteter in einem BBC Live-Interview nach als er emotional hervorhob, dass er täglich sehe wie „europäische Menschen mit blauen Augen und blonden Haaren“ getötet würden. Als wäre das Blut getöteter Menschen mit braunen Augen und dunklen Haaren nicht rot. Und auch andere europäische Polikter:innen wie etwa die österreichische Verfassungsministerin Karoline Edtstadler machten deutlich, dass es sich bei Ukrainern „nicht klassisch“ um Flüchtlinge handle, sondern um „Europäer, die nachbarschaftliche Hilfe und Schutz brauchen“. Auch Berlins Bürgermeisterin Franziska Giffey lobte kürzlich im Rahmen eines Interviews den Arbeitswillen ukrainischer Geflüchteter und implizierte zugleich, dass andere Geflüchtete zunächst nach Sozialleistungen fragten. Diese traurige Aufzählung „einzelner“ Statements ließe sich beliebig fortführen. Gemein ist ihnen allen, dass Menschen kategorisiert werden in all der Not, in echte und unechte, gute, böse oder nützliche Fliehende und die Solidarität – getragen vom Gebot der Menschlichkeit und der europäischen Werte – bestimmt wird von Hautfarbe, Religion und Herkunft. Noch vor wenigen Monaten sind Menschen aus Syrien und Afghanistan bei zweistelligem Minustemperaturen erfroren, an der Grenze zwischen Belarus und Polen. Ja, Polen, das EU-Land, das jetzt bereits über eine Millionen Menschen aus der Ukraine aufgenommen hat, verletzt sonst an seiner Ostgrenze die Mindeststandards von Völker- und Europarecht. Und noch gestern hat der Europarat die Zunahme widerrechtlicher Zurückweisungen (sog. Pushbacks) von Asylsuchenden an den europäischen Außengrenzen als „systematisches Problem“ angeprangert.
Nein, Leid darf nicht gegen Leid ausgespielt werden. Aber es wäre eine Vertiefung erfahrenen und bestehendem Leids, wenn Solidarität kategorisierend wäre. Gerade die Fastenzeit, die dieses Jahr im Christentum und Islam zeitlich zusammenfällt und zudem nächste Woche noch das jüdische Pessach-Fest hinzukommt, lädt ein diese Solidaritätsensorik im Herzen zu schärfen oder vor anhaftendem Rost zu befreien. Denn die Entsagung während der Fastenzeit soll nicht nur in uns die Selbstsucht mindern, sondern hat insbesondere einen sozialen Bezug und manifestiert in erster Linie sich in Barmherzigkeit und Solidarität. Daher bezeichnete der Prophet Muhammad den Monat Ramadan als den Monat der Mitmenschlichkeit. Möge diese Mitmenschlichkeit allen Menschen zuteil werden!
Jun.-Prof. Dr. Idris Nassery ist Juniorprofessor für Islamische Rechtswissenschaften am Seminar für Islamische Theologie an der Universität Paderborn.
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