Die Monate in den Jahren 2015 und 2016, in denen die ehemalige Bundeskanzlerin Merkel die deutschen Grenzen öffnen ließ, um Geflüchteten Schutz zu bieten, sind eines der bewegtesten Kapitel in der jüngeren deutschen Geschichte. Eine „Krise” war die Situation allenfalls deshalb, weil weder die Bundesregierung noch die Länder und Kommunen auf den plötzlichen Anstieg der Flüchtlingszahlen vorbereitet waren und händeringend improvisierten. Es war der Zeitraum eines halben Jahres, der selbst am vergangenen Donnerstag im Rahmen des Großen Zapfenstreichs zu Ehren Angela Merkels zahlreiche Medien im Rahmen ihres Rückblicks auf ihre Kanzlerschaft dazu bewegte 16 Jahre herausfordernde Kanzlerschaft auf diese „Krise“ zu reduzieren. Mir dagegen wird sie aufgrund ihrer Haltung während dieser „Krise“ in Erinnerung bleiben, die besonders offenbar wurde als sie 2015 nach einem Besuch der Flüchtlingsunterkunft in Heidenau das Skript ihrer vorbereiteten Ansprache beiseitelegte und Deutschland aufrief sich nicht von Hass und Abschottung leiten zu lassen, sondern von Menschlichkeit.
Am selben Tag während das Wachbataillon der Bundeswehr für die ehemalige Bundeskanzlerin das 1771 verfasste ökumenische Choral „Großer Gott, wir loben Dich“ spielte, landete Papst Franziskus in Nikosia, der Hauptstadt Zyperns, um sich ein Bild von der Flüchtlingsunterkunft in Astromeritis zu machen. Als er seine Ansprache weitgehend vom vorbereiteten Manuskript abgelesen hatte, kam es wieder zu einem Franziskus-Moment, in dem legte er den Vortragstext beiseite um sich in freier Rede und ungeschönter Ehrlichkeit an die Führung der wohlhabenden Länder zu wenden:
„Wir gucken uns an, was passiert. Und das Schlimmste ist, dass wir uns daran gewöhnen. ‚Ah‘, wird gesagt, ‚heute ist ein Boot gesunken, viele Vermisste.‘ Dieses Sich-daran-Gewöhnen ist eine schlimme Krankheit! Es ist eine sehr schlimme Krankheit!“
Wie schon so oft und leider ebenso oft ungehört prangerte Franziskus die unerträgliche Gleichgültigkeit gegenüber dem Leiden und Sterben von Flüchtlingen an. Diese Gleichgültigkeit und Indifferentismus sei eine Krankheit.
Der Koran nimmt auf diese Gleichgültigkeit und Indifferentismus des Menschen an unzähligen Stellen Bezug. Dabei tauchen diese Bezüge zumeist im Kontext des menschlichen Herzens (qalb) – ein Begriff, der über 130-mal im Koran Erwähnung findet- auf. Das Herz des Menschen, der taub und blind für Gott, die Mitmenschen und seine Schöpfung geworden sei, sei -so die Islamische Philosophie und Taṣawwuf- von einer tiefgreifenden Krankheit erfasst. Einig waren sich die muslimischen Philosophen und Taṣawwuf-Gelehrten, dass der Ursprung dieser „Krankheit“, die Gleichgültigkeit gegenüber Gott sei. Gleichgültigkeit Gott gegenüber widerspreche diesen Gelehrten nach der transzendenten Veranlagung des Menschen. Der Mensch, der als sich transzendierendes Wesen angelegt ist, krümmt sich im Indifferentismus auf sich zurück und verfällt so allein der Selbstbezogenheit. Wenn aber der Mensch nur sich selbst sieht, sieht er die Wirklichkeit in einem Selbstbezug, der alles andere auf diese Beziehung zu sich selbst reduziert – in jeder anderen Hinsicht ist es dann gleichgültig. Und somit wird der Mensch nach einer prophetischen Tradition Mohammads unfähig einen Sollzustand in der Welt als Auftrag und Anfrage an sich selbst wahrzunehmen: Als Auftrag etwa, dort etwas zum Guten zu wenden zu versuchen, wo andere gefangen in den Strukturen bloß schulterzuckend vorbeigehen. Sein Herz „erkrankt“ dann allmählich mit einem jeden weiteren Vorbeigehen.
Jun.-Prof. Dr. Idris Nassery ist Juniorprofessor für Islamische Rechtswissenschaften am Seminar für Islamische Theologie an der Universität Paderborn.
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