Harmoniebedürfnis

Wenn ein Jobinterview nicht zu der Festanstellung führt, auf die man gehofft hat; wenn eine Beziehung von jetzt auf gleich beendet wird, ohne dass man es hat kommen sehen; wenn sich ein Urlaub zerschlägt, weil der Flug aufgrund eines Bahnstreiks verpasst worden ist; wenn man sich ein Bein bricht und den Wettkampf, auf den man hin trainiert hat, absagen muss – dann braucht man Coping-Strategien, die dabei helfen, mit diesen Situationen umzugehen. Jeder und jede hat andere Mechanismen, die helfen sollen, über das hinwegzukommen, was störend und unangenehm in den Ablauf des Lebens hereinbricht und verhindert, dass man dem ursprünglichen Plan folgt. In den letzten anderthalb Jahren sind die Menschen vielleicht mehr als je zuvor damit konfrontiert worden, warum der viel zitierte Satz John Lennons „Life is what happens to you while you’re busy making other plans“ nicht ohne Grund so berühmt ist. 

Eine sehr beliebte Strategie scheint es zu sein, das, was nicht passt, passend zu machen. Widerfahrnisse wie Krankheit, Enttäuschung, Scheitern und Verlust werden harmonisch in das Gesamt des Lebens integriert, indem diese Ereignisse nicht als plötzliche Zusammenbrüche des Gewollten, sondern als unerwartete, aber in der Retrospektive willkommene Wendungen des Schicksals verstanden werden. Der Wunsch nach Harmonie und Einheit ist kein neuzeitliches Phänomen, sondern scheint ein allgemeines Bedürfnis von jeher zu sein, hält man sich beispielsweise vor Augen, mit welcher Vehemenz der Gelehrte Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) darauf besteht, dass sich alles, das Gute und das Böse, zu einer universalen Harmonie vereinen lässt. Selbst das Böse und das Leiden lassen sich in den Plan Gottes integrieren, insofern „das Übel ein größeres Gut im Gefolge haben kann.“[1] Dass Licht Schatten braucht und man das Schöne nur sehen kann, wenn man das Unschöne kennt, das wusste auch schon Romy Schneider im dritten Film der Sissi-Trilogie. Und in Tinder-Profilen findet man das Bekenntnis, dass man in seinem Leben nichts bereut, weil man sonst ja nicht der bzw. diejenige geworden wäre, der bzw. die man ist. So schön und wichtig dieser Zug der Selbstliebe ist, er verschleiert. Er verschleiert die Menschen, die man auf dem Weg der Selbstfindung verletzt hat. Er verschleiert die vielen Erfahrungen, die uns nicht unbedingt zu besseren Menschen haben werden lassen. Und er verschleiert im Extremfall die vielen Leben, die aufgrund einer angeblichen Vorsehung des Schicksals zerstört wurden. 

Der Theologe Karl Rahner gibt ein Beispiel dafür, dass nicht alles gleich glattgebügelt werden muss, was mir im Leben an Widerständigkeit begegnet: „So unterscheidet sich der Christ dadurch von demjenigen, der wirklich weder Reflex noch anonym Christ ist, dass er aus seinem Dasein kein System macht, sondern unbefangen sich geleiten läßt durch die plurale Wirklichkeit, die auch eine finstere, dunkle, unbegreifliche ist.“ Was im ersten Moment destruktiv klingt, offenbart sich auf den zweiten Blick als gleichermaßen realistisch wie auch konstruktiv. Der Glaube an Gott behauptet eben nicht, dass alles im Leben gut ist und einen tieferen Sinn hat, der nur noch nicht erkannt worden ist. Denn das wäre nicht nur illusorisch und naiv, sondern zudem wenig empathisch und Freiheits-verneinend. Aber der Glaube spricht mir zu, dass ich die Chance, aber auch die Verantwortung habe, jeden Tag neu anzufangen, auch wenn sich in meinem Leben Brüche befinden, die ich nicht so einfach kitten kann. So verweigert sich der Glaube an Gott einer Akzeptanz und einer Integration alles Nicht-Sein-Sollenden, in der Hoffnung, dass das Nicht-Sein-Sollende nicht vom Menschen gelöst werden muss, sondern in Gott selbst aufgehoben ist. 


[1] Gottfried Wilhelm Leibniz, Die Theodizee. Von der Güte Gottes, der Freiheit des Menschen und dem Ursprung des Übels, in: Ders., Philosophische Schriften. Band II, hg. von H. Herring, Darmstadt 1985, 287-313, hier 289.

Dr. Cornelia Dockter ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn.

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