Letzten Freitag habe ich ein Foto meines guten Freundes in einem Beitrag auf der WDR-Homepage gesehen. Er lebt in Bosnien und ist langjähriger Muezzin der Gazi Husrev-beg Moschee in Sarajevo. So überrascht ich war, sein Gesicht in einem deutschsprachigen Medium zu sehen, umso mehr überraschte mich die Überschrift des Artikels: „Muezzin-Ruf zum Freitagsgebet in Köln künftig möglich.“[1]
Laut dem Beitrag will die Oberbürgermeisterin der Stadt Köln Henriette Reker mit diesem Modellprojekt ein Zeichen der Toleranz und Religionsfreiheit in der deutschen Gesellschaft setzen. „Wenn wir in unserer Stadt neben dem Kirchengeläut auch den Ruf des Muezzins hören,“ sagte sie in einem Interview, „zeigt das, dass in Köln Vielfalt geschätzt und gelebt wird.“
Das hat mich gefreut und ein wenig an meine Heimatsstadt Sarajevo erinnert – eine Stadt, in der im Umkreis weniger Hundert Meter mehrere Moscheen, die römisch-katholische und die serbisch-orthodoxe Kathedrale, zusammen mit einer aschkenasischen Synagoge stehen. Man hört in Sarajevo sowohl den Ruf des Muezzins als auch die Glocken der Kirchen. Inzwischen empfinde ich Deutschland auch als meine Heimat und freue mich, künftig den Azan hier hören zu können.
Dieses Projekt ist ein wichtiger Schritt für junge Muslime, die immer noch identitätssuchend sind und seit Jahren aufgefordert werden, sich in die deutsche Gesellschaft zu integrieren und Deutschland als ihre Heimat anzunehmen. Es ist auch ein vielversprechendes Zeichen für inzwischen mehr als 5,6 Millionen Muslime in Deutschland, die ein wichtiger Bestandteil dieser Gesellschaft sind und die den Wohlstand des Landes in den letzten Jahrzehnten fleißig mitaufgebaut haben.
Das Projekt ist auf zwei Jahre begrenzt und erlaubt den Muezzinruf ein Mal in der Woche beschränkt auf fünf Minuten. Dazu kommen noch weitere Regeln, die teilnehmende Moscheegemeinden befolgen müssen. Daher ist die tendenziöse Aussage in vielen Medien „Die Stadt Köln erlaubt (ab sofort) den Muezzinruf“ nur mit Vorsicht zu genießen.
Ritualrechtlich ist der Azan eine (für Muslime obligatorische) Einladung zum Gebet. Im weiteren Sinn ist der Azan ein Hinweisgeber für den praktizierenden Gläubigen, dass eine neue Gebetszeit angetreten ist und er seine Verbindung mit Gott erneuern kann/soll. Der sprachliche Inhalt des Azans wurde zu den Zeiten des Propheten Muhammad festgelegt. In dieser Form wird er rezitiert und kann und soll nicht – wie manche „Islamexpert*innen“ vorschlagen – mit anderen „Formen von Geräuschen“ ersetzt werden.
Der Gebetsruf entwickelte sich später in eine Kunst, die viele Jahre geübt wird, bevor man als Muezzin in einer Moschee antreten kann. Den Azan kann man eben auch in dieser ästhetischen Form wahrnehmen. So wie das Anhören eines berühmten Sonetts oder das Anschauen eines alten Gemäldes im Menschen Gefühle und Stimmungen erzeugen kann, genauso kann die Kunst des Azans ästhetische Emotionen im Menschen erwecken. Diese Emotionen kann der Hörende dann in seine eigenen selbstbestimmten Inhalte kanalisieren. Diese Inhalte müssen nicht unbedingt religiöse oder mit Religion verbundene Erfahrungen sein. Sicherlich wäre es deswegen wichtig, dass Moscheegemeinden, die sich überhaupt am Projekt in Köln beteiligen, Muezzine engagieren, die sanfte und melodische Stimmen haben.
Mich persönlich erinnert der Azan an meine Jugend. In einem hektischen Alltag war der Azan für mich ein Zeichen für eine Auszeit, in der ich meine alltäglichen Sorgen und Probleme zur Seite legen und über den größeren Sinn des Lebens nachdenken konnte. Die ersten Worte des Azan „Allahu akbar“ (Gott ist je größer) erinnern daran, dass Gott größer ist als alle meine täglichen Sorgen. Ich denke, dass viele Muslime in Deutschland solche und ähnliche Erfahrungen mit dem Azan teilen und diesen nie als ein Zeichen der Unterwerfung anderer Religionen, Götter oder Glaubensüberzeugungen betrachten würden.
[1] https://www1.wdr.de/nachrichten/rheinland/freitagsgebet-ruf-muezzin-moschee-koeln-modellprojekt-100.html
Ahmed Husić ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Islamische Theologie der Universität Paderborn.
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