In den vergangenen Tagen und Wochen vergeht kein Tag, ohne dass ich die Zeitung öffne und mit Nachrichten über Naturkatastrophen konfrontiert werde: Hier steht ein nächster Waldbrand an, dort zieht ein ungewöhnlich starker Hurrikan auf, und ganz woanders kommt es wieder zu heftigen Überschwemmungen. Doch schienen mir solche oder ähnliche Nachrichten als Zeugnis eines auch vom Menschen mitverursachten Klimawandels zumeist sehr fern im klimatisch ausgewogenen Deutschland. Die Horror-Überflutungen in Ahrweiler, Ahrtal, Hagen und in zahlreichen weiteren Ortschaften vor wenigen Wochen jedoch rückten nicht nur geographisch, sondern auch emotional das unvorstellbare Leid der betroffenen Menschen in unser all Lebenswirklichkeit in Deutschland. So ohnmächtig und hilflos eine solche schreckliche Naturkatastrophe einen auch zunächst macht, so sehr traten für mich während und unmittelbar nach den Überflutungen auch so klar wie lange nicht mehr die Konturen dessen zutage, wer wir sind und wer wir sein wollen. So hat mir ein ganz zufälliger Halt an einer Raststätte im Ruhrgebiet das eindrucksvolle Mitgefühl und die Solidarität mit den Betroffenen Menschen klargemacht: Ein junger Mann, allenfalls 20 Jahre alt, war umgeben von einigen Polizeibeamten. Ich hatte mein Fahrzeug nur wenige Meter entfernt geparkt und konnte sehr deutlich die lautstarke Unterhaltung zwischen dem jungen Mann und den Polizeibeamten wahrnehmen. Der junge Mann hatte sich mit seinem Fahrrad auf die Autobahn begeben und wollte wohl von Arnsberg nach Hagen, um den von den Hochwassern betroffenen Menschen zu helfen. Während die Polizeibeamten mit aller Nüchternheit dem jungen Mann versuchten zu erklären, dass er nicht mit einem Fahrrad die Autobahn befahren dürfe, da er ansonsten sich und die anderen Verkehrsteilnehmer in erhebliche Gefahr bringe, erwiderte der junge Mann immer wieder: „Ich habe leider kein Auto, will aber den Menschen in Hagen helfen. Ich fühle mit ihnen und kann nicht untätig bleiben!“ Mitgefühl ist das Wesen des Gläubigen wird in einem Ausspruch des Gesandten Muḥammad überliefert. Nicht allein Empathie, also die Fähigkeit und Bereitschaft des Einfühlens, sondern Mitgefühl. Der Mitfühlende will handeln, also helfen, dort sein wo die Gegenwart Gottes erfahrbar wird. Der kanadische Wissenschaftler und Autor Paul Bloom hat es einmal so formuliert: „Empathie heißt, ich fühle das, was ein anderer Mensch fühlt. Mitgefühl bedeutet: Ich kümmere mich um den anderen, ich sorge für ihn.“ Beim Mitgefühl so Imam al-Ghazālī (gest. 1111) werden Herz und Verstand eins und münden in eine Handlung. Dieses Einstehen und die Verbundenheit des Einzelnen mit dem Schicksal der gesamten Schöpfung sei die Kernbotschaft aller Propheten so al-Ghazālī an anderer Stelle. Spannend ist, dass sich Mitgefühl hier nicht allein dem Menschen gegenüber erschöpft, sondern ebenso die Natur miteinbezieht. Ein Blick in die Prophetenbiographie Muḥammads und seiner tiefen Verbundenheit mit der Natur als Kind unter Beduinen sowie der Zeichen-Theologie des Korans lassen unverkennbar die Notwendigkeit des Mitgefühls mit der Natur offenbar werden. „Niemand ist eine Insel“ heißt es in einem Vers eines Gedichts des englischen Lyrikers John Donne. Auch wir nicht in Deutschland!
Dr. Idris Nassery ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Islamische Theologie an der Universität Paderborn.
#feelyou #Mitgefühl #Klimawandel