Deutschland, so kann man nicht erst seit Pandemiebeginn immer wieder hören, hat Nachholbedarf bei der Digitalisierung. Dabei dürfte an den Universitäten vieles, trotz anfänglicher Improvisation, besser geklappt haben als andernorts. Ob im nächsten Jahr auch die Hörsäle wieder gefüllt sind wie vor der Krise, kann wohl niemand mit Sicherheit sagen. Dass Seminare davon leben, dass Menschen von Angesicht zu Angesicht miteinander reden und Ideen diskutieren, werden die allermeisten so sehen und sich auf eine Rückkehr zur Normalität freuen. Lange hielt ich es aber für eine gute Idee, Vorlesungen in Zukunft doch komplett digital und zum Mitnehmen anzubieten. Das Konzept von Pult, Sitzreihen und Mitschreiben schien mir veraltet und eher Traditionsgründe zu haben. Wieso nicht beim Spaziergang den Stoff als Podcast anhören – oder abends ein Video gucken, anstatt von Uhrzeit und Nahverkehr abhängig zu sein?
Sicherlich werden die Erfahrungen der letzten Monate helfen, dass neue Formate in den Unialltag aufgenommen werden. Auch in Paderborn haben wir eine Online-Ideenwerkstatt und die Videointerviewreihe „ZeKK live“ gestartet. Zugleich merke ich inzwischen stärker, was nur vor Ort geht. Zur Wahrheit gehört, dass ich im Studium längst nicht in jeder Vorlesung war, und längst nicht jede aufmerksam verfolgt habe. Dennoch erinnere ich mich an Hörsaalmomente, die mein Interesse am Fach entscheidend geweckt haben, und die meistens mit den Mitstudierenden zu tun hatten. Wenn etwa jemand plötzlich auf die Ausführungen des Professors reagiert und murmelt: „Das stimmt doch nicht.“ Wenn ich mich richtig erinnere, ging es in diesem Fall um die Frage, ob werdende Eltern zugleich den Tod ihres Kindes immer schon in Kauf genommen haben. Oder wenn durch die Reihen hinweg Kopfnicken oder -schütteln anzeigt, dass der Vorlesungsstoff mit zur Kaffeepause oder in die Mensa genommen wird. Oft war die Vorlesung selbst dann nur der Auftakt für weitere Gespräche, und oft waren es diese Momente, in denen mir ein Problem erst deutlich geworden ist. Wie sehr diese Alltagsroutinen mein Studium geprägt haben, wurde mir erst klar, als viele der kleinen Austauschmöglichkeiten wegfielen. Eine gute Vorlesung lässt sich genauso gut und genauso schlecht digitalisieren wie ein Konzert. Der „Inhalt“ lässt sich auch anders transportieren, aber dann fehlt entscheidendes. Bis zum Beweis des Gegenteils hoffe ich daher auf die Rückkehr des Hörsaals. Und Terminabsprachen, die auch eine E-Mail hätten sein können, dürfen gern weiter per Zoom stattfinden
Lukas Wiesenhütter ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für Katholische Theologie der Universität Paderborn.
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