Mit den Krisenerfahrungen spätmoderner Gesellschaften hat die von vielen Religionsgemeinschaften geforderte, konsequente Solidarisierung mit den Notleidenden und Verfolgten eine neue Dringlichkeit erhalten und zu einer Kultur des wertschätzenden Miteinanders ermutigt. Auch Papst Franziskus hat in seiner im Oktober veröffentlichten Enzyklika Fratelli Tutti daran erinnert, dass die Größe und Weite der Liebe keine nationalen, religiösen, ethnischen, generationalen oder sozialen Grenzen kennen kann, sondern die Nächsten und ihr Geschick zum eigenen werden lässt. Die vom ihm ermutigte Geschwisterlichkeit bleibt in aller Diversität menschlicher Lebensformen entsprechend immer transparent auf die gemeinsame Verantwortung für den Schutz der Schöpfung und auf das Engagement für soziale Gerechtigkeit.
Dass diese Geschwisterlichkeit und Wertschätzung durch einen Dialog in der Haltung der Gastfreundschaft begleitet wird und immer mit dem Bemühen den/die Gegenüber in ihren Perspektiven, Bedürfnissen und Interessen zu verstehen verbunden ist, kann ich sowohl für den akademischen Kontext des ZeKKs, als auch den pastoralen Kontext der Seelsorge und schließlich in privaten Kommunikationsbeziehungen als bestätigt erfahren.
Je mehr ich also die Relevanz des verständigungsorientierten Dialogs für ein wertschätzendes Miteinander und eine Kultur der Begegnung verstehe und unterstütze, desto unverantwortlicher , irritierender und unverständlicher erscheint mir der gegenwärtig von einigen meiner geistlichen Geschwistern angekündigte (und in einer Bischofspredigt aus Passau zu Weihnachten 2020 jüngst abermals betonte) Kampf gegen den angeblichen „Gender-Wahn“ bzw. die „Gender-Ideologie“.
Unverantwortlich erscheint er mir zunächst besonders deshalb, weil diese Wortwahl nur allzu deutliche Überschneidungen mit der Rhetorik der Neuen Rechten aufweist und so (willentlich oder schlicht aus Unkenntnis) intellektuelle Nähe zu einer tatsächlich ideologisch eingefärbten, politischen Agenda herstellt.
Irritieren muss ein solcher Kampf, weil er nicht nur die Forderung nach einem wertschätzenden Umgang mit dem Nächsten, sondern auch die Orientierung an einem mutualen Bemühen um Verstehen und Verständigung blockiert. Auch wenn ich die Schärfe, mit er die Diskussionen um die Gleichberechtigung von Frauen in der Kirche geführt werden, kenne und somit um die (emotionalen) Frontstellungen weiß, helfen undifferenzierte Vereinseitigungen nicht dabei diese zu überwinden, sondern erzeugen nur mehr Unverständnis, zementieren diese Fronten in der impliziten oder expliziten Unterstellung stereotyper Klischees und machen die Wertschätzung von Familie und Partnerschaft jenseits heteronormativ-patriarchaler Rollenzuweisungen unmöglich. Eine Kultur der Geschwisterlichkeit zu pflegen bedeutet nicht, dass alles immer einheitlich und einstimmig abläuft. Vielmehr braucht es einen konstruktiven, d.h. kritischen, sachlich differenzierten aber eben dennoch menschenzugewandten Umgang mit Unterschiedlichkeit. Auch im Dissens bleiben die Anerkennung des Anderen und ein wertschätzendes Miteinander möglich.
Unverständlich ist der undifferenzierte Vorwurf an „Gender-Wahn“ zu leiden also schließlich, weil er weder auf der Sach-, noch auf der Emotions- und erst recht nicht auf der Beziehungsebene für die Kultur der Geschwisterlichkeit einsteht. Die von Papst Franziskus ermahnte soziale Freundschaft hört nicht dort auf, wo der Andere eine für mich ungewohnte Perspektive einnimmt. Sie lebt von Augenhöhe und immunisiert sich nicht gegen die Komplexität menschlicher Erfahrungen und Lebensentwürfe. Wenn mich diese Komplexität überfordert, wenn mich Lebensentwürfe befremden, dann kann und darf dies immer sein. Meine Verantwortung als Bürger*in, als Christ*in und als Mitwirkende*r an einer Kultur der wertschätzenden Begegnung und freundschaftlichen Offenheit besteht dann aber darin, dass ich nicht dort stehen bleibe, sondern nachfrage, dass ich mich umfassend zu informieren bemühe, dass ich ernsthaft hinhöre und aufrichtig zu verstehen versuche. Im Zweifelsfall wäre es sonst aber wohl ethisch angemessener einfach mal zu schweigen. Die Verbreitung von Inhalten nämlich, deren Einseitigkeit als kleinmütige Angstrhetorik erscheint – zumindest aber daran zweifeln lässt in der befreienden Botschaft des Evangeliums zu wurzeln – könnte sonst im Versuch die Wahrheit jenseits des Anderen verstehen zu wollen, selbst wahnhafte Züge annehmen.
Dr. Anne Weber ist Kollegiatin im Graduiertenkolleg „Kirche-Sein in Zeiten der Veränderung“ an der Theologischen Fakultät Paderborn.
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