Gedanken vom 29.10 bis 01.11
In diesen gelb-orange-roten Tagen, an der Schwelle vom Oktober zum November, haben Religionen Feiertage begangen, die auf eine besondere Art und Weise die Verbindung zwischen Leben und Tod erkennen lassen.
Mit dem Allerheiligen auf der katholischen Seite, Reformationstag auf der evangelischen, Samhain auf der neuheidnischen und Halloween auf der kindlichen Seite liegt das diesjährige Mawlid an-Nabi, der Prophetengeburtstag, im Kalendar recht nah an jenen Feiertagen. Am Mawlid bereiten Muslime spezielle Süßigkeiten vor und gehen zu Friedhöfen, um ihrer Verstorbenen zu gedenken. Und wie kann man man den Propheten und die Toten besser ehren als indem man köstliche Mahlzeiten mit jenen teilt, die sie am nötigsten haben. So wollte auch der Prophet kommemoriert werden.
Da Mawlid dieses Jahr mit dem Ende vom Oktober zusammenfiel, wenn der Schleier zwischen den Welten besonders dünn wird, erinnert es uns an die Ephemerität des Lebens aber auch an seine Bleibendheit. Die Natur ruft es uns mit ihren fallenden Blättern ebenfalls in Erinnerung, denn nichts in der Natur zeugt so von Vergänglichkeit wie der Herbst.
Nikolai Wassiljewitsch Gogol (1809-1852), ein bekannter ukrainisch-russischer Schriftsteller, Autor des Romans „Die toten Seelen“, wollte ebenfalls, dass seiner auf diese Weise gedacht wird:
„Mein Leib soll der Erde hingegeben werden, irgendwo, ohne Beachtung des Ortes, wo er liegen soll, nichts soll mit der verbliebenen Asche mehr verbunden werden; niemand soll Aufmerksamkeit dem Staub widmen, der nicht mehr der meine ist; […] stattdessen bete man recht kräftig für meine Seele, und statt sämtlicher Ehren soll man von mir ein paar von denjenigen, die kein täglich Brot haben, mit einer einfachen Mahlzeit bewirten.“
Der Wechsel der Jahreszeiten, oder, um es poetisch auszudrücken, das Jahresrad, erinnert uns an den Wechsel der Jahreszeiten in unserem eigenen Leben. Sind wir nun Shiiten oder Sunniten, Katholiken oder Protestanten oder gar Vertreter der Naturreligionen, lasst uns unserer Toten gedenken, indem wir Mahlzeiten mit denen teilen, die sie dringend brauchen.
Vor einigen Wochen begegnete meine Mutter auf der Straße einer Frau, die, nachdem sie aus einem Supermarkt herausging, einen obdachlosen Mann mit vielerlei Leckereien bedachte. Als meine Mutter sie zu ihrem guten Herzen beglückwünschte, sagte die Frau einfach: „Möge Nikolai Wassiljewitsch in Frieden ruhen“. Darauf erklärte sie meiner Mutter, dass für sie als russische Philologin der letzte Wunsch des geliebten Schriftstellers heilig sei. Natürlich war Nikolai Wassiljewitsch kein Prophet, und doch umgibt ihn – wie auch andere Klassiker der russischsprachigen Literatur – in den Herzen der russischen Menschen, denen Religiösität für viele Jahrzehnte verwehrt blieb, eine Art Heiligenschein. Er war ein gottesfürchtiger tieffrommer Mensch, der in seinen Romanen sowohl die Sitten und Unsitten seiner Zeit anprangerte, als auch mystische Erzählungen schrieb, die als Vorläufer des modernen Horrors gelten könnten, ja, ihn bisweilen an Schreckenspotenzial übertreffen. Für das sekularisierte Russland des zwanzigsten Jahrhunderts hat die klassische Literatur ein besonderes, ja religiöses, Potenzial entwickelt. Dostojewski, Tolstoi, Puschkin und Gogol sind zwar weder Propheten noch Heilige und doch erfüllen ihre Bücher gerade für das sowjetische Herz den Durst nach dem Sakralen.
Von daher auch die Andächtigkeit, die die Philologin an den Tag legte… Um so mehr darf uns der Wunsch des Propheten heilig sein, uns zu seinem Gedenken um Andere zu kümmern. Alles Gute zum Geburtstag, ya Nabi Allah!
Elizaveta Dorogova ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Seminar für Islamische Theologie der Universität Paderborn.