Senior*innenzentren galten in den letzten drei Monaten und gelten noch immer als Lackmustest, als Schibboleth für den Erfolg der Pandemie-Gesetzgebung. Als eins der obersten Ziele der Pandemiegesetzgebung wurde deklariert, die Gesundheit der Anwohner*innen und der Mitarbeiter*innen zu schützen. Heimleitungen und das gesamte Personal sind darauf ausgerichtet, ihr Heim coronafrei zu halten. Sobald eine Person in einem Senior*innenzentrum erkrankt war, hatte das mehrfach eine hohe Zunahme von Todesfällen zur Folge. Es geht also um Leben und Tod, nicht nur um ein Leben und um einen Tod.
Für die Anwohner*innen der Pflegeheime bedeutete die Gesetzgebung 10 Wochen Isolation von ihren Angehörigen. NRW bestrafte den Versuch von Angehörigen, ihre eigene Ehefrau, ihren eigenen Ehemann, ihre Mutter, ihren Vater, ihre Großeltern, ihre*n Nachbar*in, ihre*n Freund*in zu besuchen, mit 200 Euro Bußgeld. Im Brustton der Überzeugung verkündete Armin Laschet, dass NRW hier keine falsche Toleranz zulassen würde.
In den Nachrichten sahen wir hochbetagte weinende Männer, die ihren dementen geliebten Frauen, die sie schon seit Jahren pflegten und sie aus Überforderung ins Pflegeheim gegeben hatten, nicht erklären konnten, warum sie auf unbestimmte Zeit nicht mehr zu ihnen kommen dürften.
Nach den zehn Wochen der Isolation mussten viele Angehörige erkennen, die zehn Wochen in täglicher Sorge um ihre alten, schwachen und dementen Mütter, Väter, Großväter, Großmütter, Nachbar*innen und Freund*innen waren, dass die Pandemiegesetzgebung ihren geliebten Hochbetagten mehr zugesetzt hatte als sie es erbeten und erhofft hatten. Zu lesen und zu hören war von Alten mit und ohne Covid 19 Diagnose, die isoliert und einsam hatten sterben müssen, auch von Suiziden in Heimen.
Kriterium dafür, was als Gesundheit gelten durfte, war und ist noch immer auf unbestimmte Zeit ausschließlich, Personen und Heime coronafrei zu halten.
Vor einigen Wochen wurde auch in diesem Zusammenhang die Bemerkung Wolfgang Schäubles diskutiert, dass weder aus christlicher Sicht noch aus der Sicht demokratischer Politik das Leben den einzigen und höchsten Wert darstellen könne.
Die Theologin stimmt ihm zu. Nicht nur Gott in Christus hat sein Leben um der Rettung der Welt willen gegeben, sondern zahlreiche Märtyrer*innen und Held*innen der Religionen und der Humanität haben in Zeiten der Not ihr Leben riskiert, um andere zu retten. Täglich geschieht das, wo immer Menschen, seien sie religiös oder human motiviert, in Kauf nehmen, dass ihre eigene Gesundheit beeinträchtigt, ihr eigenes Wohlergeben und ihre Eigeninteressen zurückgestellt werden, um andere zu unterstützen, ihnen beizustehen, ihnen auch stellvertretend eigene Zeit, eigenes Geld und die Zuwendung zu schenken, die diesen Schwachen, Kranken und Ausgegrenzten, aber auch den eigenen Kindern und den eigenen Eltern sonst fehlen würde. Neben Eltern, Großeltern, Kindern und Freund*innen stehen Soldat*innen, Polizist*innen, Ärzt*innen, Pflegende, Seelsorger*innen, Lehrer*innen, Kita-Mitarbeiter*innen, Therapeut*innen und viele mehr regelmäßig oder stetig in Abwägungen dessen, wieweit sie in ihrer unbezahlten und unbezahlbaren Zuwendung und in ihrer Liebe zu Nächsten gehen können und wollen. Das Recht und das Interesse am Schutz des eigenen Lebens wird abgewogen gegenüber dem Interesse, das Leben anderer zu schützen und zu unterstützen.
Theologische, humane und demokratische Ethik darf dem, so meine ich, auch demokratisch, human und theologisch rechtfertigbaren Interesse, Senior*innen und das Pflegepersonal vor Covid 19 zu schützen, nicht das Interesse opfern, chronisch Kranken, Dementen, Senior*innen und Menschen mit Einschränkungen in Pflegeheimen die Menschenwürde zu nehmen oder sie übermäßig anzutasten. Auch hier gilt es abzuwägen. Um der juristisch reduzierten Gesundheit willen, die – höchst problematisch – ausschließlich auf den Schutz vor Ansteckung mit dem Keim von Covid 19 beschränkt wurde und noch immer wird, darf die Solidarität mit diesen Schwächsten und Personen ohne eigene Stimme und weitgehend ohne Lobby in unserem Staat nicht verweigert werden. Ihr übermäßiges seelisches, körperliches und geistiges Leiden darf nicht in Kauf genommen, ihre Menschenrechte nicht zu sehr eingeschränkt werden.
Prof. Dr. Helga Kuhlmann ist Professorin für Evangelische Theologie mit dem Schwerpunkt Systematische Theologie und Ökumene am Institut für Evangelische Theologie der Universität Paderborn.