Digitales Empowerment?
Ob in der Industrie, der Wirtschaft, im Bereich Kultur oder im Bildungskontext – ohne digitales Marketing, digitale Medien, digitale Netzwerke und digitale Kommunikation scheint unser Alltag, unsere Arbeit nicht mehr denkbar. Digitale Technologien und ‚smarte‘ Software ermöglichen die Speicherung, Organisation und Verarbeitung großer Datenmengen und unterstützen die Präzisierung und Automatisierung von komplexen Prozessen und Abläufen. Die damit einhergehende Systementlastung soll neue Räume für kreatives und innovatives Denken und Handeln schaffen. Auch die Möglichkeit unabhängig von Zeit und Raum miteinander in Verbindung treten bzw. bleiben zu können, sowie die logistisch-koordinative Erleichterung unserer Planungen durch softwaregestützte Karten, Zeittafeln oder Kalender fasziniert. Neben der reinen Nützlichkeit, lassen sich durch digitale Medien zudem auch Potentiale entdecken, die für spätmoderne Gesellschaften wertvolle Möglichkeiten für emanzipatorisch-demokratische Vergesellschaftung verheißen: So scheinen mit smarten Technologien, deren intuitiver Verständlichkeit und anwendungsfreundlichen Designs diskriminierende lebensweltliche Kategorien überwunden. Zumindest erweist sich die Zugänglichkeit zu virtuellen Welten, die Teilhabe an ihnen, sowie deren Nutzung in Form von Partizipation und kreativer Weiterentwicklung als grundsätzlich unabhängig von sozialer Herkunft, Bildungsstand, Alter, Geschlecht, kultureller, ethnischem oder religiösem Hintergrund. Zudem deutet sich in dem hoch diversifizierten, bunten Angebot an, wie unterschiedliche Interessen und Bedürfnisse einer heterogenen, perspektivenpluralen Gesellschaft nebeneinander bestehen und eine Eigenlogik entfalten können. Auch im Blick auf den Netzaktivismus, wie er sich in spontaner politischer Mobilisierung gerade zu ökologischen Themen andeutet, lässt vermuten, dass die digitale Öffentlichkeit von den diskursiven Ermüdungserscheinungen der analogen Welt noch nicht heimgesucht wurde.
Es mag vor diesem Hintergrund also nicht verwundern, dass auch politische Agenden, Städteentwicklungspläne, Bildungsinstitutionen und selbst religiöse Institutionen sich zunehmend digital profilieren (wollen), ihre Inhalte und Anliegen digital präsentieren und mit Digitalisierung werben, ja eine viel offenere und fokussierter Entwicklung in Deutschland fordern – nicht nur, um Bürger*innen, Nutzer*innen, Auszubildende oder Gläubige digital zu ermächtigen, sondern auch um beim globalen Vergleich mithalten, international wettbewerbsfähig sein zu können.
Gegen diese Stimmen und Programme, die digitalen Transformationsprozessen kategorisch mit Demokratie und Empowerment gleichsetzen, ja manchmal in allem Digitalen eine Form der Erlösung wahrnehmen, erheben sich wiederum zunehmend solche Stimmen und Positionen, die diesem Prozess äußerst skeptisch gegenüberstehen. Auch wenn man in der digitalen Transformation nicht die Apokalypse sehen muss und die Annahme die regelmäßige Nutzung digitaler Technologien führe notwendig zu einem Ausverkauf der Menschlichkeit, (wahlweise einer Verdummung, Verrohung und Verstummung der Welt) an der Realität vorbeigeht, so ist die Skepsis gegenüber einer rein positivistischen Lesart nicht unbegründet:
Denn sicherlich haben gerade digitale Medien demokratische Potentiale. Fakt ist aber auch, dass die Nutzung von digitalen Informations- und Kommunikationstechnologien, d.h. die Aktivierung dieser Potenziale voraussetzungsreicher ist, als zunächst angenommen. So braucht es einerseits lebensweltliches Orientierungswissen, d.h. Kenntnisse im Umgang mit den Technologien, der angemessenen Verarbeitung und Deutung von Informationen, Argumenten, wie auch die Kenntnisse und Einübung von Tugenden respektvoller Diskurskultur. Andererseits hat sich bereits in der Technikkritik sehr deutlich gezeigt, dass jedes Werkzeug – egal ob der Hammer oder das Smartphone – ambivalent ist, d.h. dessen konkrete Nutzung immer auch durch in Gesellschaft und Kultur habitualisierte Wertesysteme und Menschenbilder, aber auch Ideen vorn Fortschritt und Bildungen getragen wird. Verweist man zudem auf die neusten Nutzungszahlen und -Verhalten, so zeigt sich schnell, dass die demokratisch-emanzipatorischen Potentiale durch die für digitale Räume charakteristische Anonymität und Unverbindlichkeit nur schleppend eingeholt werden. Im Gegenteil, die leicht zu ermittelnde Beliebtheit bestimmter Inhalte lässt vielmehr vermuten, dass besonders solche Inhalte und Seiten oder Apps frequentiert werden, die entweder implizit und explizit diskriminierende Menschen-, Rollen- und Weltdeutungen anbieten oder aber durch die spezifisch dahinterstehende Nutzungsoberfläche eine Konsumhaltung auch Menschen gegenüber verstetigen. Nicht zuletzt eröffnen sich in diesem Zusammenhang und unter den Bedingungen kapitalistischer und politischer Interessen auch in der digitalen Welt neue Räume für Manipulation und Vermachtung – bis hin zu einer strategischen Verbreitung und Eingewöhnung anti-demokratischer Ideologien.
Diese Dynamiken prägen dabei nicht nur die Lebenswelt der Gläubigen und markieren die ‚Zeichen der Zeit mit denen Theologien konfrontiert sind. Auch generieren diese Entwicklungen einen neuen Marktplatz, auf dem auch Theologien sich positionieren müssen. Ob dies angemessen passiert indem man sich ebenfalls einen attraktiven Marktstand zimmert und mindestens so laut brüllt, wie die lautesten Marktschreier – oder, ob eine solche Vorgehensweise durch die Anpassung an die Logik des Marktes letztlich zum Ausverkauf der Botschaften führen, sollte dringend bedacht und beantwortet werden. Ein Seitenblick auf den feministischen Diskurs, der seit einigen Jahren zu diesen Themen geführt wird, kann bei der Suche nach solchen Antworten möglicherweise helfen. Zumindest haben feministisch engagierte Frauen, Männer und Dritte ein gutes Gespür für mögliche ambivalente, diskriminierende, anti-emanzipatorische Dynamiken entwickelt und bestehen bereits mit eigenen Projekten in der digitalen Welt.
Die vom Gleichstellungsbüro der Stadt Paderborn ausgerichteten Veranstaltungen zum diesjährigen Weltfrauentag (https://www.paderborn.de/rathaus-service/stadtverwaltung/gleichstellungsstelle/aktuelles/internationaler-frauentag-2020.php) beschäftigen sich mit diesen Themen. Ein Besuch lohnt sich auch deshalb, weil neben der kritisch-differenzierten Auseinandersetzung mit diesen Fragen dort ebenso kreative Antworten, Angebote und Ideen gesponnen und diskutiert werden, um Freiheit, Gerechtigkeit und Empowerment auch in der digitalen Welt nachhaltig ermöglicht werden.
Dr. Anne Weber ist Kollegiatin im Graduiertenkolleg „Kirche-Sein in Zeiten der Veränderung“ an der Theologischen Fakultät Paderborn.