Während der christliche liturgische Kalender orthodoxer und nordafrikanischer Kirchen die Heilige Nacht der Geburt Christi am 6. Januar feiert, den die westliche Kirche als den Tag der Heiligen drei Könige oder der Weisen aus dem Morgenland vollzieht, und alle christlichen Kirchen die weihnachtliche Freude mit der Freude über die Erscheinung Gottes in Jesus Christus in der Epiphaniaszeit fortsetzen, läutet der weltliche Kalender seit einigen Jahren mit Neujahr den Dryuary oder Dry January ein, den „trockenen“ suchtfreien Januar. Seit 2013 wird er in Großbritannien von einer gesundheitspolitischen Initiative Alcohol Change UK gefördert und verbreitet sich seitdem auch auf dem amerikanischen und dem europäischen Kontinent. In der christlichen Religion folgt der weihnachtlichen Fest- und Schlemmerzeit ab Aschermittwoch die Fastenzeit des Gedenkens an das Leiden Christi auf seinem Weg ans Kreuz, die Passionszeit.
Alle großen Religionen kennen Phasen des Fastens, der freiwilligen und zuweilen auch durch Machtstrukturen der Religion erzwungenen Enthaltsamkeit von leiblichen Genüssen der Nahrung und der Sexualität. Fasten dient der Vorbereitung Heiliger Feste und der Vorbereitung von Gottesbegegnungen. Fasten kann Buße und Trauer zum Ausdruck bringen und wird oft mit Klagen und Selbstanklagen verbunden. Individuell und kollektiv wird Fasten in unterschiedlichen Formen praktiziert.
Von mehreren wichtigen biblischen Figuren wie Mose, Elia, Hanna, David, Johannes dem Täufer und Jesus wird überliefert, dass sie gefastet haben. Im Buch des Propheten Jesaja wird herausgestellt, dass aus göttlicher Perspektive Fasten und eine gerechte und soziale Praxis zusammengehören. Den Hungrigen soll Brot gegeben werden, Obdachlosen ein Wohnort, Nackte sollen Kleidung bekommen und Konflikte sollen beendet werden (Jes 58). Wie auch in neutestamentlichen Texten wird deutlich, dass eine gerechte, solidarische und friedliche Praxis einem asketischen Leben vorzuziehen ist. Die Überzeugung, dass Fasten um des Fastens willen ohne eine gerechte und friedliche Praxis Gott missfällt, findet sich in Texten der jüdischen, der christlichen und der islamischen Religion.
In der Christenheit verzichten katholische Gemeindeglieder in den Fastenzeiten des Kirchenjahres traditionell freiwillig auf Fleisch, Fisch, fetthaltige Nahrung, Süßes und Alkohol zu verzichten, während einfache flüssige und feste Nahrung verzehrt wird. Nachdem in europäischen evangelischen Kirchen Fasten im 19. und im 20. Jahrhundert kaum praktiziert wurde, entdecken sie seit den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts das Fasten neu. Seit Mitte der achtziger Jahre werden evangelische Christ*innen zur Aktion „Sieben Wochen ohne“ von Aschermittwoch bis zum Ende der Karwoche eingeladen, die jedes Jahr einem anderen Motto gewidmet ist. Schädigende Verhaltensweisen und Gewohnheiten sollen unterlassen werden und stattdessen Gesten der Nächstenliebe und ein schonender Umgang mit natürlichen Ressourcen praktiziert werden, z.B. ehrlich, freundlich und sozial zu sein: sieben Wochen ohne Scheu, ohne Ausreden, ohne falschen Ehrgeiz, ohne Ausreden, ohne Enge, ohne Sofort oder „mit Zu-Neigung“.
Wenn Menschen in der Nahrungsüberflussgesellschaft freiwillig auf körperliche Genüsse verzichten, lernen sie, wieder Hunger zu erfahren und sich über den sonst selbstverständlichen Genuss an Nahrung zu freuen. Sie geben ihren Organen die Chance, auszuruhen, zu entgiften und mithilfe der körperlichen Selbstheilungskräfte zu regenerieren. Durch die Erfahrung des Verzichts und des darin spürbaren Mangels und der Selbstdisziplin kommen sie denen nahe, die nicht freiwillig, sondern unfreiwillig Not leiden und zu wenig zu essen und zu genießen haben. Sie gewinnen Zeit und Freiräume für Wesentliches. Sie lernen neu, wie elementar „Brot“ Leben ermöglicht und dass zugleich niemand allein vom Brot leben kann. Fasten kann den Körper, die Seele und den Geist reinigen. Während säkular und in den Religionen Fasten bei vielen an Attraktivität gewinnt, wird zugleich öffentliche Kritik am muslimischen Fasten laut.
Die Erinnerung an unterschiedliche Fastentraditionen der Religionen und Kulturen sowie die Erkenntnisse der modernen Medizin über die heilende Wirkung des Fastens könnten das Verständnis und die Akzeptanz muslimischen Fastens erleichtern. Gemeinsame Fastenaktionen und Einladungen in die je eigenen Fastentraditionen können Menschen zusammenbringen, die zuvor wenig miteinander anfangen konnten. Viele muslimische Gruppen laden im Fastenmonat Ramadan dazu ein, gemeinsam mit nicht-muslimischen Menschen das Fastenbrechen zu feiern. Solche Feiern ermöglichen das Kennenlernen und den Aufbau von Vertrauen in einem gesellschaftlichen Klima, in dem viele an Einsamkeit, Angst, Fremdheitserfahrungen, Konkurrenzdruck und Sinnleere ihres Lebens leiden. Im gemeinsamen Fasten und in Feiern des Fastenbrechens kann Schalom, Frieden im umfassenden Sinn wachsen.
Prof. Dr Helga Kuhlmann ist Professorin für Systematische Theologie am Institut für Evangelische Theeologie an der Universität Paderborn.