Ein zufälliger Fund in der Bibliothek. Wieso wir mehr lesen sollten!

Rezension zu Werner Herzogs „Die Zukunft der Wahrheit“

Kennt ihr das auch? Motiviert ein gutes, neues Buch in die Hand zu nehmen, steht man vor der Frage: und was soll ich lesen? Bei der schier unfassbaren Menge an Büchern auf dem „Noch zu lesen“-Stapel, den Empfehlungen von Freunden und Neuerscheinungen gerät man ins Stocken — und schaut am Ende doch halbherzig eine semi-gute Serie auf einem unserer Streaming-Dienste weiter (oder nochmal). Bei so Vielem, das nach unserer Aufmerksamkeit schreit, fällt es uns schwer eine Entscheidung zu treffen. Wir fragen uns, ob wir wirklich die Energie und Lebenszeit in ein unbekanntes Buch stecken wollen und lassen uns dann oft lieber von anderem „Content“ berieseln. Doch gut fühlen wir uns dabei oft nicht…

In diesem Beitrag möchte ich euch anhand einer kleinen Geschichte veranschaulichen, wie man auch durch Zufälle wieder ins Lesen kommen kann. Hierzu werde ich erzählen, wie ich dazu gekommen bin Werner Herzogs neues Buch „Die Zukunft der Wahrheit“ zu lesen und welche Gedanken mir beim Lesen angestoßen wurden. 

Als ich gestern noch ein paar Minuten Zeit hatte bevor ich mich mit meiner Nachmittags-Kaffee-Verabredung vor der Mensa treffen wollte, ging ich in die Bibliothek und durchstöberte die Neuerscheinungen in deren Foyer. Ohne konkrete Vorstellung lies ich meinen Blick über die Namen der Autor:innen und deren neue Titel schweifen, als ich an einem kleinen, schönen, hellblau eingebundenen Büchlein von „Werner Herzog“ verweilte. Da ich bereits einige Filme von Herzog kannte, nahm ich das Büchlein „Die Zukunft der Wahrheit“ in die Hand und entschied mich nach dem Lesen der ersten Zeilen diesen ungefähr hundert Seiten langen Essay mitzunehmen. Noch vor dem Auftauchen meiner zehnminütig verspäteten Verabredung hatte ich bereits das erste dutzend Seiten gelesen — und war voller frischer Gedanken und Ideen. Noch bevor ich zu Bett ging, hatte ich es schon durch.

In seinem Essay versucht Herzog explizit nicht die vielseitig-komplexe Landkarte philosophischer, mathematischer oder religiöser Wahrheitsbegriffe abzuschreiten und zu bewerten. Anhand seiner eigenen Erfahrung als Regisseur und Schauspieler reflektiert er das Verhältnis von Gefühlen und konstruierten Bildern im Bezug auf die — seiner Meinung nach — dem Menschen eigene Suche nach der Wahrheit. Motiviert ist diese Untersuchung vor allem an aktuellen Debatten und Entwicklungen über „Fake News“ und die sogenannte „Post-Truth-Ära“. Dabei ist er stets von der These geleitet, dass „Fake News“ kein neues Phänomen sind und Menschen schon stets geschichtliche Konstrukte als Wahr empfunden haben, welche wiederum ihre Perspektive auf die Gegebenheiten prägen.

Ob es an seinen filmischen Fähigkeiten des Schnittes liegt oder nicht: er stellt meisterlich geschichtliche Ereignisse neben zeitgenössische und schafft es so beide auf eine andere Weise betrachten zu können. So stellt er den Legenden und Mythen um den römischen Kaiser Nero die teilweise verbreitete Überzeugung nebenan, dass Elvis noch leben würde; der gefälschten Urkunde und lange geglaubten Geschichte der „konstantinischen Schenkung“ großer Teile Roms und Italiens an den damaligen Papst Sylvester beschreibt er parallel zum Image vom ehemaligen Schwergewichts-Boxweltmeister Mike Tyson; oder die nach der russischen Krim-(Wieder-)Eroberung im Jahr 1783 zu Propagandazwecken errichteten Dörferkulissen Potemkins voll schauspielernder glücklicher Bauern mit The Truman Show und von Nordkorea an der Grenze errichteten Friedensdörfern. Er schafft es in diesen Konstellationen die jeweiligen Vorstellungen mit einer anderen Perspektive zu konfrontieren, was für ein aufrütteln vermeintlicher Wahrheiten sorgt — und diese so in ein klareres Licht zu rücken. (Vgl. Kapitel 6)

Ein weiteres wiederkehrendes Thema des Essays ist die menschliche Offenheit sich „belügen“ lassen zu wollen. Dies veranschaulicht er am schönsten anhand der Hintergründe einer seiner Filme: Family Romance, LLC. In diesem geht es um eine gleichnamige japanische Agentur, welche Schauspieler:innen, die Freunde oder Familienmitglieder mimen, leihweise vermietet. Die Firma hat bereits über 2000 angestellte Akteur:innen — und der Trend scheint zu wachsen. Anhand dieser Geschichte zeigt sich wie bereitwillig wir diese „Lügen“ buchen, um uns z.B. nicht einsam zu fühlen, und wie wünschenswert Menschen diesen Service empfinden. Ferner seien durch diese Akteur:innen ein besseres Verständnis der diese Services buchenden Personen zu erlangen. Anders als deren Konsument:innen könnten diese „die wirkliche Wahrheit“ einer breiteren Masse mitteilen, da die Kunden dieser Dienste „vermutlich nur gelogen […] und im besten fall nur die halbe Wahrheit gesagt“ hätten, um in der Öffentlichkeit ihr Gesicht zu wahren. (S. 45) Dieses Beispiel veranschaulicht sehr schön, wie stark die Gefühle der Menschen einen Einfluss darauf haben, was wir für wahr annehmen (wollen) und wie sie uns daran hindern können ihre empfunden Wahrheiten auszusprechen. (Vgl. Kapitel 5)

In diesem Unterfangen wird er es nicht müde die Rolle von Filmemachern kritisch zu hinterfragen — auch wenn es an mehreren Stellen wie eine Verteidigung gegen Vorwürfe klingt, die im Laufe seiner Karriere an ihn gerichtet worden sind. Ob Spielfilme oder Dokumentationen: sie alle spielen mit der „Lüge“ um eine gewisse Wahrheit darzustellen; oder zumindest auf der Suche nach ihr zu unterstützen. Hierbei versucht Herzog eine schmale Grenze zu ziehen, wann dieses Verfahren auf der Suche als förderlich oder als gefährlich anzusehen ist. An diesem Punkt finde ich seine Argumentation jedoch etwas schwach und vermute, dass er diese nur versucht zu zeihen, um sich einigen Vorwürfen seiner Arbeit entgegenzustellen. Doch um dies einzuschätzen, ist mein Wissen über seine Arbeiten und den Diskurs darüber nicht fundiert genug. (Vgl. Kapitel 8)

Zum Ende schwenkt Herzog zurück auf das Ausgangsthema der heutigen „Fake News“ zurück. Nach einer kurzen Betrachtung der Risiken und Potentiale — Herzog scheint insbesondere von algorithmisch verfassten Gedichten sehr angetan zu sein! —derzeitiger Technologien zur Bildbearbeitung und -generierung oder Textproduktion kommt er zu dem (leicht utopischen) Fazit: Keine Generation vor der unseren hätte so starke Möglichkeiten an der Hand „Fakes“ aufzudecken. Jederzeit mit dem Archiven des Internets ausgestattet, könnten wir Informationen mit wenigen Klicks überprüfen. Das stimmt. Aber persönlich finde ich es etwas naiv „Fake News“ nur als etwas zu betachten, das wir mit einer kurzen Recherche entkräften können. Es gibt inzwischen genug Studien, die die anfängliche Wirkung solcher „Nachrichten“ auf uns auch trotz Aufklärung ihrer Falschheit belegen. Außerdem scheint eines der größten Probleme in dieser Hinsicht das bereits in der Einleitung dieses Artikels angesprochenen Phänomens zu sein: So Vieles verlangt und ringt nach unserer Aufmerksamkeit. Sie ist zu einer Ware geworden, um die sich die unterschiedlichen Plattformen und deren „Content“-Produzent:innen streiten. Und nimmt man das Family Romance Beispiel ernst, so sollte ersichtlich sein, dass das von ihnen mit uns betriebene Spiel mit Emotionen — Bestätigung ebenso wie Hass — uns aktiver und effektiver in den Bann ziehen kann als eine nüchterne Recherche. Aber vielleicht sollte man die in seiner Hoffnung durchschimmernde Nüchternheit als ein Gebot unserer Zeit verstehen … (Vgl. Kapitel 9 & 10)

Auf den letzten Seiten des Essays schreibt Herzog einige Zeilen, die ich in ihrer länge zitieren möchte, da sie mich zu Schreiben dieses Eintrags motiviert haben:

„Wir müssen mehr lesen. Ein aus wenigen Sätzen bestehender Tweet kann eine komplexe Wirklichkeit nicht wiedergeben. Nur Bücher — auch wenn hier dieselben Vorsichtsmaßnahmen gelten — vermitteln uns das Bewusstsein von größeren Vorgängen, von konzeptionellen Linien in unserer Wirklichkeit. Das zu predigen trifft meist auf taube Ohren. […] Der Trend der Abwendung vom lesen von Büchern hat schon vor Jahrzehnten begonnen, und heute, selbst in Seminaren von Studenten (!) der altgriechischen Literatur, stellt sich heraus, dass kaum ein Beteiligter (!) mehr liest und kaum ein Teilnehmer (!) noch in der Lage ist, einen einfachen Gedanken in ein paar Sätzen schriftlich zu formalisieren. Das sei aber nicht auf Randgebiete wie die Altphilologie beschränkt. Jungen Filmemachern (!), die mich um Rat fragen, hämmere ich ein: Lest, lest, lest, lest, lest. Lest.“ (S. 107)

Dadurch dass ich ein zufälliges Buch aus der Bibliothek mitgenommen und gelesen habe, bin ich auf andere Gedanken gebracht worden, habe über diese mit Freunden beim Essen diskutiert und mich zum Schreiben dieser Zeilen motivieren können. Dabei habe ich Gedanken meiner letzten Lektüren in ein anderes Licht rücken und so besser verstehen können — Verbindungen, die zufälliger und gleichzeitig fruchtbarer nicht sein könnten. Es hat mich motiviert mich neuen Büchern zu widmen. Das einzige, was es dazu manchmal braucht, ist Zufall und ein wenig Disziplin. Das Gefühl tatsächlich originelle Gedanken dabei zu entwickeln ist jedoch unbezahlbar.

Falls ihr auch Lust bekommen habt Herzogs Buch zu lesen, ihr findet es seit kurzen in der Bibliothek. Und es ist nur 113 Seiten lang 🙂

Herzog, Werner (2024): Die Zukunft der Wahrheit. München: Hanser. 

Von Sven Thomas

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