Dr. Michael Schubert hat sich Gedanken zu dem aktuellen Diskurs über den sogenannten UN-Migrationspakt gemacht:
Der sogenannte UN-Migrationspakt vom Juli 2018 wird vielfach skandalisiert. Dies geschieht überwiegend auf Basis von gezielter Falschinformation und grundsätzlicher Ablehnung von Migration. Insofern ist es an der Zeit, den New Yorker Beschluss der 192 Staaten einmal mit aller Ruhe zu betrachten.
Alle Staaten der UN, bis auf die USA, stimmten im Juli dem „Vertrag für sichere, geordnete und geregelte Migration“ zu. Am 11./12. Dezember 2018 soll der Vertrag im marokkanischen Marrakesch von den Staats- und Regierungschefs unterschrieben werden. 18 Monate lang hatten die Staaten über den Vertrag gerungen, mit Zustimmung der 192 schien ein Dokument verabschiedet, das die Herausforderungen weltweiter Migration ernst nimmt und für eine Bewältigung der Migrationsfolgen eintritt. Es ginge – so die UN-Sonderbeauftragte für Migration, Louise Arbour – darum, die „chaotischen und gefährlich ausbeuterischen Aspekte“ von Migration zu unterbinden. 23 Ziele fasst der Vertrag (https://refugeesmigrants.un.org/sites/default/files/180711_final_draft_0.pdf) von der gemeinsamen Datensammlung über weltweite Migration über Anstrengungen zur Minimierung der Push-Faktoren von Migration bei gleichzeitiger Legalisierung von Zuwanderungswegen bis hin zur Stärkung von Integrationsperspektiven in den einzelnen Zuwanderungsräumen (Absätze 16-39). Er spricht von einer ausgeweiteten Kooperation der Staaten im Umgang mit den Herausforderungen und Chancen internationaler Migration, sei aber ausdrücklich nicht rechtlich bindend (Absatz 7). Im Vertrag spiegelt sich das grundsätzliche Selbstverständnis der UN, die Staaten der Welt in ihren politischen Zielen auf der Grundlage von Humanität enger zusammen rücken zu lassen. Erfahrungen mit der die Menschheitsgeschichte zu jeder Zeit prägenden Migration würde alle Staaten ja einen und gerade nicht voneinander trennen (Absätze 8 und 9). Dass es um ein ‚weltweites Niederlassungsrecht‘ von Migranten ginge, gehört in das Reich der Fake-News. Die Souveränität von Staaten im Umgang mit Migration wird gerade nicht angetastet. Trotzdem entzogen mittlerweile mindestens Ungarn und Österreich dem Vertrag ihre Zustimmung mit dem Verweis darauf, ihre nationale Politik nicht von der UN bestimmen lassen zu wollen. Mit der Ablehnung des Vertrages blasen die Regierungen beider Länder in die Trompete des Nationalismus und spielen dazu auf der Klaviatur kulturalistischer Vorbehalte gegenüber Zuwanderung. Sie zielen damit auf unter der Bevölkerung weitverbreitete Stimmungen, nehmen diese auf und fördern sie zugleich.
Mit diesem kurzen Blick auf den UN-Migrationsvertrag werden drei seit langem in der Historischen Migrationsforschung erkannte Zusammenhänge schon deutlich:
1. Ganz grundsätzlich: Migration ist der Normalfall der Geschichte und Austausch bestimmt die Entwicklung der Menschheit. Darauf weist der Vertrag ausdrücklich. Der Einfluss ‚fremder‘ Impulse im vermeintlich homogenen Eigenen ist so stark, dass jede Exemplifizierung an dieser Stelle zu Redundanzen führen würde. Viele Menschen, die sich heute als einheimisch und sesshaft begreifen, sind historisch gesehen Nachfahren von einst Zugewanderten. Der Migrationsforscher Klaus Bade hat einmal von Migration als „conditio humana“ gesprochen: Wanderungen gehören zu ihr „wie Geburt, Fortpflanzung, Krankheit und Tod“ (Bade, Europa in Bewegung, S. 11). Dies gilt für die ‚betterment migration‘ derjenigen, die versuchen bessere Lebensperspektiven durch Migration zu erlangen wie auch für die ‚subsistence migration‘ derjenigen, die wandern, um überhaupt zu überleben.
2. Migration und Menschenrechte: Die UN als Institution und Organisation der ‚Völkergemeinschaft‘ hat ja im Wesentlichen die Aufgabe, auf das Zusammenwachsen der Staaten in gemeinsamen Zielen und die Einhaltung der Menschenrechte weltweit hinzuwirken. Damit steht sie in Nachfolge des Genfer Völkerbundes, der nach den Pariser Friedensverträgen 1920 seine Tätigkeit aufnahm, um nach dem Ersten Weltkrieg für Frieden durch schiedsgerichtliche Beilegung internationaler Konflikte, internationale Abrüstung und ein System der kollektiven Sicherheit zu sorgen. Schon damals stand das Thema Migration ganz oben auf der Agenda der Friedenssicherung und Einhaltung der Menschenrechte: Der Hochkommissar des Völkerbundes für Flüchtlingsfragen Fridtjof Nansen gab einem Instrument der Migrationssteuerung 1922 seinen Namen – dem Nansen-Pass. Er erhielt dafür im gleichen Jahr den Friedensnobelpreis. Der Nansen-Pass war ein Reisepass für Staatenlose und Emigranten und wurde aus humanitären und politischen Gründen im Zuge des russischen Bürgerkrieges für russische Flüchtlinge eingerichtet, galt dann aber zum Beispiel auch für armenische oder türkische Flüchtlinge und gewährte ihnen das Recht auf Asyl im jeweils ausstellenden Zuwanderungsland. Der Schriftsteller Vladimir Nabokov, der Maler Marc Chagall und die Balletttänzerin Anna Pawlowa gehörten zu denjenigen, denen sich durch den Nansen-Pass zumindest ein Minimum an Lebensperspektiven eröffnete.
3. Staat und Migration: Staaten versuchen seit jeher – als Dynastien und Untertanenverbände oder als moderne Nationalstaaten – zu definieren, wer zu ihnen gehört und wer ausgeschlossen wird. Es geht ihnen um ihre Bevölkerungen und letztlich auch um die Gewährung von Sicherheit für ihre Bevölkerungen. In der Vergangenheit haben Staaten versucht, ihre Bevölkerungen auf Basis ethno-nationaler oder auch rassistischer Kriterien zu definieren. Vermeintliche Homogenität in einer gemeinsamen Identität war das Ziel. Im nationalen Wohlfahrtsstaat geht es aber auch um Fragen sozialer Inklusion, das heißt letztlich um die Konkurrenz von Einheimischen mit Fremden um soziale Rechte und materielle Absicherungen. Die Angehörigkeit zu einem Staat wird wie eine Mitgliedschaft in einem Verein begriffen, der Privilegien des Zugangs zum Sportplatz ausgibt. Gleichzeitig findet aber auch eine Identifikation mit dem Verein statt, die zur kritischen Beäugung von Neuzutritten führt.
In der Zusammenfassung bedeutet dies, dass die Frage entlang der sich die Diskussion um den „Vertrag für sichere, geordnete und geregelte Migration“ entfacht eine der Setzung von Primaten ist: Erscheinen Menschenrechte und Gerechtigkeiten in einer interdependenten Weltgesellschaft wichtiger, als Vorstellungen identitärer Homogenität, sozialer Sicherheit und dem Pochen auf sogenannte Etabliertenvorrechte? Geht es grundsätzlich um mehr Offenheit in einer offenen Gesellschaft oder um mehr nationale Abgeschlossenheit? Diese Fragen sind nicht neu, erhalten aber anscheinend gegenwärtig eine besondere Brisanz, die in der Redeweise von der ‚Spaltung von Gesellschaft‘ zum Ausdruck kommt. Der Streit um den hier kommentierten Vertrag der UN wird zeigen, in welche der beiden Richtungen sich die Geschichte Europas und der Welt bewegen wird.