Über das Lernen in populärer Musikkultur

Von Sophie Stremel und Luisa Docter, Version 1.0, 01.02.2022 17:00

 

„Die meisten Sachen lerne ich wirklich durch Machen“ – LISA WHO

„Learning by doing würde ich mal sagen.“ – Oliver Gies (Maybebop)

„Also ich habe wirklich tagelang immer nur auf YouTube mir irgendwelche Tutorials angeguckt […] und habe die halt einfach gespielt.“ – Zara Akopyan

„Dann habe ich da irgendwie dran gesessen und einfach ausprobiert und von mir aus einen extremen Antrieb gehabt, einfach besser zu werden.“ – Joshi (KID DAD)

Inhalt

Welche Fähigkeiten benötigt ein*e Pop-Musiker*in, um einen Song zu schreiben? Wie erlangt man dieses Können, woher genau kommen diese Fähigkeiten und Werkzeuge, die den Startpunkt jeden Musikschaffens bilden? In diesen Fragen liegt unser Interesse an den Anfängen und der Ausbildung dieser Fähigkeiten begründet. Wir beleuchten die Entwicklung der musikalischen Fähigkeiten einiger unserer interviewten Musiker*innen und werfen dazu einen Blick in die Forschung zur musikalischen Sozialisation und zum informellen Lernen. In diesem Zuge betrachten wir Aussagen der Musiker*innen zu ihren musikalischen Ursprüngen und fragen: Wie ist das Interesse für das Musizieren bei ihnen entstanden? Warum wurden die Musiker*innen aktiv? Gab es etwa einen Schlüsselmoment? Gibt es unterschiedliche Formen des musikalischen Lernens und wenn ja, welche Form nimmt einen besonderen Stellenwert in den Aussagen der interviewten Musiker*innen ein? Um Antworten auf diese Fragen zu finden, werden wir die Aussagen über erste Berührungspunkte mit Musik, die erste Annäherung an ein Instrument sowie die Entwicklung einer eigenen Herangehensweise an das Lernen von Fähigkeiten aus den Interviews herausarbeiten.

 Musikalische Sozialisation

Nach den Soziologen Klaus Hurrelmann und Dieter Ulrich meint Sozialisation zunächst „Mitglied werden in einer Gesellschaft“ (Hurrelmann/Ulich 1998, 6). Der Musikpädagoge und -psychologe Günter Kleinen spezifiziert, dass dies in „wechselseitige[r] Beeinflussung von Individuum und Gesellschaft“ geschieht (Kleinen 2008, 42). Dabei ist das Individuum explizit aktiv oder, wie Hurrelmann es formuliert, ein „produktiv realitätsverarbeitende[s] Subjekt“ (Hurrelmann, zit. n. ebd.). Der Mediensoziologe Robert Seifert fasst dies vor dem Hintergrund der Persönlichkeitsentwicklung mit der „Internalisierung von Werten, Haltungen, Gewohnheiten sowie als Aneignung von Fertigkeiten im alltäglichen Leben“ zusammen (Seifert 2018, 145). Bei den Musikwissenschaftlern Hans Neuhoff und Helga de la Motte-Haber findet sich in Bezug auf die musikalische Sozialisation die Beschreibung der „Entwicklung musikbezogener Erlebensweisen, Handlungsformen und Kompetenzen.“ (Neuhoff/Motte-Haber 2007, 390.) Darunter fallen u.a. der „Musikgeschmack“, „Nutzungsgewohnheiten“, „Urteilsbildung“, und gegebenenfalls praktische Fähigkeiten. All dies macht zusammen die „Bedeutung von Musik für die Identität einer Person“ aus (ebd.). Weiterhin betonen sie explizit, dass die Musik einen sehr hohen Stellenwert in Bezug auf die Bildung des „sozialen Charakters“ hat (ebd., 391). Die Beschreibungen von Neuhoff und de la Motte-Haber bilden eine wichtige Grundlage für die weiteren Überlegungen im vorliegenden Text und gerade der „soziale Charakter“ wird sich hier als besonders relevant erweisen.

Doch zunächst wenden wir uns den unterschiedlichen Stadien der Sozialisation zu. Das erste Stadium, Seifert nennt es „familiale musikalische Sozialisation“ (Seifert 2018, 148), ist geprägt vom Elternhaus und umfasst die Zeit von der Geburt bis zur Pubertät. In diesem Stadium bilden Familienangehörige die Hauptbezugspersonen und prägen das Kind nachhaltig. (Vgl. Neuhoff/Motte-Haber 2007, 399.) Marius Vieth, der Sänger und Gitarrist der Band KID DAD, gibt in den Interviews hierzu ein gutes Beispiel: „Mein Opa hat Horn gespielt, das hat mich voll fasziniert.“ (KID DAD, 00:42:59 ff.) Schließlich spielte Marius von der 3. bis zur 8. Klasse im selben Verein wie sein Opa – allerdings Trompete (ebd.). Ungeachtet der differenten Instrumentenwahl lässt sich hier sehr deutlich die Inspiration zum ersten aktiven Zugang zur Musik durch den Großvater feststellen.

Kinder zeigen sich grundsätzlich offen gegenüber unterschiedlicher Musik, was mit einer starken Orientierung an den Eltern – an deren Musikverhalten und Präferenzen – einher geht. (Vgl. Kleinen 2008, 46; Seifert 2018, 185.) Zusätzlich zur Familie gewinnen mit der Zeit jedoch auch Peergroup und Schule an Einfluss. (Vgl. Gembris 2009, 185.) Beide Instanzen repräsentieren den Umweltaspekt der Sozialisation. Dem gegenüber steht das Individuum, welches mit Faktoren wie „Begabung, Lernfähigkeit, intrinsische[r] Motivation, Leistungsbereitschaft“ (Kleinen 2008, 44) ausgestattet ist. Dabei betont Kleinen das wechselseitige Verhältnis der beiden Pole Umwelt und Individuum. (Vgl. ebd.) Das bedeutet, dass das Individuum die genannten Faktoren mitbringt und die Umwelt – also Familie, Peergroup, Schule – dessen Entwicklung in irgendeiner Art und Weise unterstützt, und natürlich umgekehrt. Oder anders gesagt, Individuum und Umwelt bedingen sich gegenseitig.

Bei der Auseinandersetzung mit diesem Themenfeld wird besonders der Einfluss des Jugendalters auf die musikalische Sozialisation hervorgehoben sowie umgekehrt der besondere Stellenwert von Musik im Sozialisationsprozess von Jugendlichen. Dies überrascht auch nicht, denn schließlich stellt das Jugendalter die Phase der Ablösung von vorherigen Sozialisationsinstanzen zugunsten der Herausbildung einer eigenen Identität dar (vgl. Kleinen 2008, 44; Gembris 2009, 185; Seifert 2018, 148 f.). Seifert betont, dass es einen Konsens darüber gäbe, dass Musik die Verarbeitung der Gefühle in Verbindung mit den drastischen Veränderungen des Jugendalters sehr gut auffangen könne. Dabei fokussiert er sich auf die Rolle der Popmusik, die besonders bei der Verarbeitung von Konflikten und Entwicklungsaufgaben beteiligt sei (Seifert 2018, 149). So schreibt er: „Nicht umsonst gilt die Herausbildung musikalischer Präferenzen im Jugendalter als zentraler Schritt“ (ebd., 147). Die Orientierung an Gleichaltrigen sorgt für „emotionalen Rückhalt“ im Angesicht der „veränderten gesellschaftlichen Bedingungen“ in der Jugend (Kleinen 2008, 45).

Des Weiteren berichtet Seifert über die „Ausprägung musikalischer Präferenzen“ (Seifert 2018, 150) im geschützten Rahmen der Peergroups: Musik sei eines der bedeutendsten Themenfelder in diesem Alter. (Vgl. ebd.) Sie unterstütze die Identitätsbildung durch die Teilhabe an Peergroups. (Vgl. ebd., 155.) Das kann dadurch geschehen, dass der Musikgeschmack ein Prüfpunkt für mögliche Freundschaften darstellt, da es sich um eine Gemeinsamkeit handelt und Jugendliche auch Persönlichkeitsmerkmale in den Musikgeschmack hineininterpretieren. Daraus lässt sich auf Basis von Neuhoff und de la Motte-Haber schlussfolgern, dass innerhalb einer Gruppe „wechselseitige musikgeschmackliche Anpassungsprozesse statt[finden]“ (Neuhoff/Motte-Haber 2007, 402). Seifert fasst diese Prozesse als „musikzentriert[e] Vergemeinschaftung“ zusammen (Seifert 2018, 150). Kleinen formuliert diesen Sachverhalt wie folgt: „[O]hne Zweifel hat Musik die höchste individuelle und soziale, somit auch entwicklungspsychologische Relevanz in der Jugendphase“ (Kleinen 2008, 58). Greift man das Beispiel von Marius wieder auf, so zeigt sich das auch in seinem Werdegang: Entsprechend der dargelegten Neuorientierung im Jugendalter hörte er in der 8. Klasse auf, Trompete zu spielen. Damit löste er sich von der familiären Prägung (hier der Großvater) und begann, Gitarre zu spielen. Er wandte sich so identitätsstiftend seiner Peergroup zu, indem er bald Teil einer Band aus Gleichaltrigen wurde (vgl. KID DAD, 00:42:59 ff.).

Ungefähr ab einem Alter von 20 Jahren „festigt sich“ schließlich die „popmusikalische Identität“ und musikalische Präferenzen dieser Zeit werden oft ein Leben lang beibehalten (Kleinen 2008, 50). Veränderung findet dann häufig nur noch auf der Ebene der Art und Weise des Hörens statt: Sie verändert sich dahingehend, dass der identitäts- und gruppenzugehörigkeitsstiftende Charakter der Musik in der Jugend zugunsten eines subjektiveren Hörens aufgegeben wird. (Vgl. ebd., 58 f.; Zur Sozialisation als lebenslangen Prozess vgl. weiterführend Seifert 2018, 150.)

Schlüsselerlebnisse & Musikimmanente Motivation

Wenden wir uns nun der Frage zu, warum Menschen aktiv musizieren. Ziel ist es dabei, von dem zuvor gegebenen Überblick und der Einordnung in Entwicklungsphasen zu einer Betrachtung von Schlüsselerlebnissen, Motivation und informellem Lernen zu führen, um so besondere Momente im Detail zu beleuchten. Der Musikpsychologe Heiner Gembris zeigt den Einfluss von „nicht vorhersehbare[n] Ereignisse[n]“ auf, also von sogenannten „Schlüsselerlebnissen“ (Gembris 2009, 205). Diese könnten einen nicht unerheblichen Einfluss auf die Entwicklung musikalischer Fähigkeiten haben. So führt er Beispiele an, wie das einer auf dem Dachboden gefundenen Trompete oder eines als besonders empfundenen Konzertes und verweist auf biografische Studien, die zu entsprechenden Ergebnissen kommen. Abschließend leitet er Kriterien zur Kategorisierung möglicher musikalischer Schlüsselerlebnisse ab (ebd., 205–208). Er weist dabei auf den „subjektiv relevanten musikalischen Kontext“ und die „starke emotionale Bewegung“ hin sowie auf die Entwicklung und Kanalisation neuer „Erkenntnisse“, „Interessen“ und einen Beitrag zur „Identitätsbildung“ (ebd., 208). Ebenso beschreibt er die Häufung von Schlüsselmomenten in „Phasen der Unsicherheit und Orientierungssuche“ und dass mit ihnen „Wendepunkte mit längerfristigen Folgen“ einhergingen (ebd.). An dieser Stelle zeigt sich, dass die hinter den Schlüsselmomenten stehenden Mechanismen stark an die Sozialisation im Jugendalter erinnern – es scheinen in dieser Zeit (jedoch nicht nur dann) grundsätzlich viele Aspekte vorzuliegen, die Schlüsselmomente begünstigen können. Die genannten Parallelen führen uns hingegen zu weiteren Aussagen der interviewten Künstler*innen:

Der Leadgitarrist der Band KID DAD, Joshua Meinert alias Joshi, wuchs in einem musikgeprägten Haushalt mit ständig verfügbaren Gitarren auf, für die er sich ungeachtet der musikalischen Aktivität seines Vaters zunächst weniger interessierte (KID DAD, 00:39:15 ff.). Das änderte sich, als Joshi 17 wurde:

[I]rgendwie war ich unzufrieden mit meinem Umfeld da, weil […] für mich war das so hohl alles […]. Dann habe ich plötzlich entdeckt, dass es Menschen gibt, die Bands haben und eigene Songs schreiben […] und das fand ich irgendwie richtig geil und […] [ein Mensch], der mich ganz besonders beeindruckt hat damals[, …] hat dafür gesorgt, dass ich irgendwann eine Gitarre in die Hand genommen habe und dann bin ich tatsächlich meiner ersten Band beigetreten, bevor ich angefangen habe, Gitarre zu spielen, […] mit dem Versprechen, dass ich das jetzt lerne. (KID DAD, 00:39:15 ff.)

Diese Situation bedient alle zuvor genannten Merkmale eines Schlüsselerlebnisses: Joshi findet in dem Beitritt einer Band die Orientierung, die ihm zuvor fehlte. Das Musizieren wirkt identitätsstiftend auf ihn – besonders vor dem Hintergrund seines weiteren Werdegangs – und stellt den Ausgangspunkt für die Entwicklung von Erkenntnissen und Interessen dar. Somit bedeutet der Beitritt in eine Band einen Wendepunkt in seinem Leben.

An diesem Beispiel ist ein weiteres Themenfeld unserer genaueren Betrachtung, warum Menschen aktiv musizieren, zu erkennen: Die Motivation. Joshi, der von klein auf umgeben von Gitarren war, wird erst durch einen Freund zum Erlernen dieses Instruments und zum Bandbeitritt motiviert.

Der Musiksoziologe Jan Hemming definiert Motivation in einem Text über autodidaktisches Lernen mit Bezug auf Edward Decis und Richard Ryans „Selbstbestimmungstheorie der Motivation“ als Zusammensetzung aus „Kompetenz“, „Autonomie“ und „sozialer Eingebundenheit“ (Hemming 2009, 68). Hemming stellt in Bezug auf seine Studie über semi-professionelle Rock- und Popmusiker*innen eine Verbindung zwischen Motivation und Lernen her. Dies lege für ihn auch der Charakter von populärer Musik nahe, da „der individuelle Ausdruck und die kreative Betätigung“ stark mit dieser Musikrichtung verbunden sei. (Vgl. ebd., 69.) Ähnliche Überlegungen lassen sich auch bei Gembris finden: Der „Ausdruck persönlicher Gefühle“ erfordere „ein größeres Maß an Spontaneität“ – entgegen der eher auf „Reproduktion“ (ebd.) ausgerichteten klassischen Musik – sodass autodidaktisches Lernen für Popmusik besonders geeignet sei. (Vgl. Gembris 2009, 204.) Ferner kämen die Bildungsinstitutionen den „neusten Trends“ der Popmusik nicht schnell genug hinterher, sodass es nicht immer den passenden Unterricht geben könne. (Vgl. ebd., 205.) Hemming definiert schließlich den Begriff der „musikimmanenten Motivation“ (Hemming 2009, 69), also Motivation, die mit oder aus der Musik entsteht. Er nennt dafür das Beispiel der „Liebe“ (ebd.) für ein Instrument oder für einen Song, was dann in intensivem Üben und dem „Flow-Effekt“ (ebd.) münden würde: „Musik wird als Auslöser emotionaler Erlebnisse oder von Ereignissen hoher Intensität erfahren.“ (ebd.) Darin liegt für Hemming auch der „Schlüssel zum Verständnis von Motivation“ (ebd.).

Aussagen der von uns interviewten Künstler*innen untermauern diese Überlegungen Hemmings. Die Liebe zum Instrument und die daraus erfolgende Motivation, intensiv zu üben, findet sich bei dem zuvor bereits beschriebenen Beispiel von Joshi:

[H]abe mir irgendwie Sachen angeguckt und dachte mir „Ah krass, die können sowas machen mit einer Gitarre, das will ich auch!“ Dann habe ich da irgendwie dran gesessen und einfach ausprobiert und von mir aus einen extremen Antrieb gehabt, einfach besser zu werden. (KID DAD, 00:39:15 ff.)

Die Faszination für das Instrument sowie für andere Musiker*innen und deren Fähigkeiten scheinen bei Joshi die Motivation ausgelöst zu haben, seine eigenen Fähigkeiten stetig auszubauen, mit, wie er es sagt, „einer gesunden Ein- oder Übe-Mentalität […], weil wenn man nicht übt, dann passiert nichts“ (ebd.).

Auch im Werdegang von Marius (KID DAD) lassen sich unsere Ausführungen zur Motivation wiederfinden: Zwar hatte er Gitarrenunterricht, doch brachte es ihm für seinen musikalischen Werdegang mehr, in einer Band zu sein. Marius beschreibt seine Motivation folgendermaßen:

Dann habe ich eigentlich mit der Band Gitarre spielen gelernt, habe aber nie wirklich den Ansporn gehabt, […] viel mehr auf der Gitarre zu können, als selber aus meinem Kopf herauskommt. Ich habe mich selber durch das Zeug, was ich spielen wollte, was ich geschrieben habe, gepusht […]. (ebd., 00:42:59 ff.)

Es zeigt sich, dass sich bei Marius deutlich der zuvor nach Gembris und Hemming beschriebene Aspekt des Selbstausdrucks durch populäre Musik als Ursprung seiner Motivation findet. Ebenso wird (wie auch bei Joshi) der Aspekt der „Gruppenprozesse“ innerhalb einer Band deutlich, die nach Hemming einen vergleichbaren Stellenwert wie die „musikimmanente Motivation“ haben (Hemming 2009, 70). Wie stark der persönliche Ausdruck und die Gefühle beim Musizieren bei allen Bandmitgliedern von KID DAD im Fokus liegen, wird besonders daran deutlich, dass sie bandintern eine besondere „Aussprache“ gefunden haben: So sagen sie „fühl ich“ oder „fühl ich nicht“ als Bewertungskriterien beim Song schreiben. „Das beschreibt uns als Band eigentlich auch ganz gut, weil über dieses Gefühl sehr viel bei uns geht“ (KID DAD, 00:04:09 ff.).

Die Künstlerin LISA WHO hatte unregelmäßig Unterricht für unterschiedliche Instrumente, den sie jedoch immer wieder abbrach, bis sie im Alter von 15 Jahren mit Gesangsunterricht begann. (Vgl. LISA WHO, 00:15:39 ff.) „Und dann kam irgendwann dazu, dass ich […] Ideen im Kopf hatte und die gerne auch selber umsetzen wollte, […] ich habe einfach das versucht zu lernen, was ich brauchte dafür. […] [A]ber die meisten Sachen lerne ich wirklich durch Machen.“ (ebd.) Auch hier entsteht die Motivation dadurch, dass sie sich selbst ausdrücken möchte, und überlegt, wie sie ihre Ideen umsetzen kann. Alex Nolte (u.a. Mitglied der Band Julia’s Mind) spricht davon, dass Grundkenntnisse aus dem Musikunterricht – er betont auch das Ausprobieren mehrerer unterschiedlicher Instrumente – für ihn wie ein „Tool“ seien, mit dessen Hilfe er seine Ideen „aus dem Kopf rauskriegt“ (Alex Nolte 00:14:43 ff.). Auch hat das Gefühl einen hohen Stellenwert für seine Musik. (Vgl. ebd.) LISA WHO wie Alex nutzen also die im Unterricht erworbenen Grundkenntnisse in Kombination mit ihren eigenen Ideen, ihren Gefühlen, um die Musik aus ihren Köpfen heraus für die Ohren der Hörer*innen zu transferieren. Für LISA WHO war auch explizit eine Zeit prägend, in der sie bei Aufnahmen der Band Madsen als Musikerin dabei war, denn „dann kann man sehr viel herum probieren.“ (LISA WHO 00:15:39 ff.) Gembris nennt diese Vorgehensweise „Trial-and-Error-Prinzip“ (Gembris 2009, 205). Somit verbindet ihre Zeit bei Madsen sowohl den Aspekt des Probierens – also den der „musikimmanenten Motivation“ –, als auch den bisher immer wieder erwähnten „sozialen Charakter“ der Gruppenprozesse durch das Musizieren in einer Band.

Informelles Lernen

Wenden wir uns nun einer Betrachtung des Themas Lernen zu. Unter Lernen durch „einfach machen“ (LISA WHO, 00:15:39), wie LISA WHO ihr eigenes Vorgehen beschreibt, kann man auch informelles Lernen verstehen. Dies wiederum ist eine Lernform, die sich von bekannten Prinzipien des formalen und non-formalen Lernen unterscheidet. Letztere begegnen in Einrichtungen wie Schulen, Ausbildungsstätten und Hochschulen. (Vgl. Harring/Witte/Burger 2018, 18.) Diese wiederum sind auf der Grundlage bestimmter Lerninhalte gestaltet sowie mit einer Qualifizierung und Zertifizierung verbunden. Formales Lernen ist also zielgerichtet und findet in anerkannten Bildungseinrichtungen statt. Non-formale Einrichtungen sind zwar auch wie formale Einrichtungen institutionell strukturiert, doch diese können freiwillig genutzt werden. (Vgl. Harring/Witte/Burger 2018, 18.) Diese Lernprozesse zielen aber nicht hauptsächlich auf einen Abschluss oder ein Zertifikat ab. Beispiele wären innerbetriebliche Weiterbildungen, private Sprachkurse oder auch vorschulische Bildung.

Bezeichnungen für informelles Lernen weichen hingegen stark voneinander ab: Livingstone (1999, 68f.) definiert informelles Lernen am Konzept des selbstgesteuerten Lernens. Es erfolgt selbständig, unterscheidet sich hingegen von Alltagswahrnehmungen und allgemeinen Sozialisierungen, sodass Lernende den eigenen Lernprozess bewusst als Wissenserwerb einstufen. Dohmen hingegen versteht darunter alle bewussten und unbewussten Lernprozesse, die außerhalb von organisierten und kontrollierten Lernstrukturen erfolgen (vgl. Dohmen 2001, 19) – also auch Aktivitäten des täglichen Lebens im Zusammenhang mit Arbeit, Familie und Freizeit. (Vgl. auch Commission of the European Communities 2001, 32.) Informelles Lernen ist somit nicht strukturiert und führt normalerweise auch nicht zu einer Zertifizierung. Es kann bewusst passieren, ist in den meisten Fällen aber unbeabsichtigt bzw. beiläufig. (Vgl. ebd.)

Diese informellen Lernprozesse lassen sich nun auch bei den von uns interviewten Musiker*innen finden. Joshi beschreibt seine Musikbildung als „komplett autodidaktisch“ (KID DAD, 00:39:15). Sein Lernprozess bestand darin, sich andere Gitarrist*innen anzusehen, wobei er „einen extremen Antrieb“ (ebd.) verspürte, deren Niveau zu erreichen und besser zu werden. Max Zdunek, ebenfalls von KID DAD, besuchte mit 14 Jahren die Musikschule. Jedoch berichtet er, dass viele seiner Lernprozesse im Proberaum stattfinden. (Vgl. ebd., 00:48:31 ff.) Diese Lernprozesse sind weitestgehend „zweckgebunden“ (ebd.), da er erst anfängt zu lernen, sobald er etwas spielen will, das er noch nicht beherrscht. Somit hat er einen non-formalen Lernhintergrund, erwirbt allerdings viel mehr Fähigkeiten selbständig im Proberaum.

Auch Zara Akopyan hat vieles autonom gelernt. Sie beschreibt, wie sie sich „tagelang“ (Zara Akopyan, 00:07:01) YouTube-Tutorials zu Liedern angeschaut und diese dann „einfach gespielt“ (ebd.) habe, also frei nach dem Motto: einfach machen.

„[E]infach machen“ (LISA WHO, 00:15:39) ist auch das Motto von LISA WHO. Sie hatte zwar einige non-formale Lerngelegenheiten (vgl. ebd.), probierte mit Musikprogrammen am Computer aber auch viel selbst aus. (Vgl. ebd.) Auch aus der Zeit mit der Band Madsen, wie etwa den Aufnahmeprozessen, konnte sie viel mitnehmen. (Vgl. ebd.)

Selbst bei Musikern mit formalem Lernhintergrund, wie Oliver Gies von Maybebop ist festzustellen, dass informelle Lernprozesse für das Schaffen von Musik trotzdem wichtig sind. Er selbst hat „Musik auf Lehramt studiert“ (Maybebop, 00:05:10 ff.) und einen entsprechenden musiktheoretischen Hintergrund. Dennoch beschreibt er seine musikalische Bildung als einen „Learning-by-doing“-Prozess (ebd., 00:04:28 ff.).

Oliver Gies betont darüber hinaus seine sehr intuitive Herangehensweise an das Musizieren:

[A]ber beim Melodienschreiben lass’ ich mich doch sehr von meiner Intuition leiten und auch von der Stimme. […] Ja, weil die Stimme häufig andere Wege findet als der Kopf und Melodien dadurch sanglicher werden und dass ich sie tatsächlich ausprobiere und versuche, dass die Stimme einen Weg findet, den sie vielleicht, wenn ich nur drüber nachdenke, nicht finden würde. (ebd., 00:05:54 ff.)

Ein derartiger Fokus auf die Stimme mag bei einer A-capella-Gruppe naheliegend sein, doch hat er damit für sich eine Methode entwickelt, mit der er gezielt verkopfte, theorielastige Herangehensweisen überwindet. Hierzu lässt sich resümieren, dass die 15 Jahre Erfahrung vermutlich starken Einfluss an der Loslösung des Musizierens vom „Kopf“ hatten. So verinnerlichte Oliver seine Arbeitsweise über die Jahre und kann sich in seinem persönlichen Methodenschatz frei und intuitiv bewegen.

Fazit

Wie haben die Musiker*innen nun ihre Fähigkeiten erworben? Wir haben uns, um Antworten darauf zu finden, im Vorherigen mit dem Einfluss der Sozialisation auf die Entwicklung musikalischer Fähigkeiten befasst. Dabei ließ sich anhand der Interviews die prägende Rolle der Familie sowie besonders des Jugendalters bestätigen. Ebenso haben wir uns mit dem Stellenwert der Motivation für das Musizieren beschäftigt. Vor allem musikimmanente Motivation und das soziale Miteinander beim gemeinsamen Musizieren stellten sich als auffallend wirksam bei der musikalischen Entwicklung heraus und damit auch bei dem Erlernen der Fähigkeiten. Das Spielen in einer Band haben etwa für Joshi und Marius von KID DAD und für LISA WHO einen besonderen Stellenwert beim Lernen. Die Möglichkeit der Umsetzung eigener Ideen und Gefühle führen bei allen interviewten Künstler*innen zu einer Motivations- und damit auch zu einer Produktivitätssteigerung. So ist auch häufig der eigene Ausdruck der Gefühle ein Auslöser zum aktiven Musizieren oder zum Weiterentwickeln der Fähigkeiten.

Des Weiteren haben wir festgestellt, dass die Künstler*innen häufig ihre Fertigkeiten informell erarbeiten. Interessant ist dabei auch, dass (bis auf Joshi von KID DAD, der sein Instrument rein autodidaktisch erlernte) alle Musiker*innen tatsächlich formalen Instrumentalunterricht hatten. Musikunterricht wird also häufig als Einstieg ins Musizieren genutzt und die so erworbenen Grundkenntnisse werden von einigen Künstler*innen als grundsätzlich hilfreich eingeordnet. Allerdings scheint Unterricht allein oft nicht auszureichen. Einige Künstler*innen beschreiben den Musikunterricht als nicht zielführend und er habe nicht das vermittelt, was sie eigentlich interessierte. Das zeigt sich an den zuvor beschriebenen Beispielen u. a. von LISA WHO, die immer wieder Unterbrechungen im Musikunterricht hatte oder bei Zara Akopyan, die, als sie der Gitarrenunterricht nicht weiterbrachte, ergänzend auf Youtube-Videos zurückgriff und sich so ihren persönlichen Musikfundus aufbaute. Dies lässt sich insgesamt häufig beobachten: Die Musiker*innen eignen sich selbstständig die Fähigkeiten an, die sie für ihren eigenen musikalischen Ausdruck benötigen, sei es nun über Imitation, das „Trial-and-Error-Prinzip“ oder in Gruppenprozessen innerhalb einer Band, also durch „Learning-by-doing“. Dabei  bilden die im Musikunterricht erworbenen Grundkenntnisse häufig die Basis, auf welche weitere Fähigkeiten aufbauen, wie z.B. Oliver Gies und Alex Nolte es betonen.

Wir haben also herausgefunden, dass das Erlangen musikalischer Fähigkeiten verschiedenen Wegen folgen kann. Dennoch haben alle interviewten Künstler*innen gemeinsam, dass sie sich beim Musizieren stark auf ihre Intuition verlassen und dabei ihre individuellen Methoden gefunden haben, die für sie und ihre Vorstellungen von Musik funktionieren.

Quellenverzeichnis

#HowToPop, „Interview mit Alex Nolte von Julia’s Mind“, 26.01.2022, in: Youtube, URL: https://www.youtube.com/watch?v=zEgwF4Swm0o&list=PLG-cTcBygJd1Ic5bmS4iv7PE-mOyv0C3P&index=5 (Abruf: 01.02.2022).

#HowToPop, „Interview mit KID DAD“, 06.01.2022, in: Youtube, URL: https://www.youtube.com/watch?v=6l2TUcvQU5k&list=PLG-cTcBygJd1Ic5bmS4iv7PE-mOyv0C3P&index=2 (Abruf: 01.02.2022).

#HowToPop: „Interview mit Lisa Who“, 06.01.2022, in: Youtube, URL: https://www.youtube.com/watch?v=pvjhYPwvGj4&list=PLG-cTcBygJd1Ic5bmS4iv7PE-mOyv0C3P&index=4 (Abruf: 01.02.2022).

#HowToPop: „Interview mit Oliver Gies von Maybebop“, 06.01.2022, in: Youtube, URL: https://www.youtube.com/watch?v=2tNtXjMm0Dk&list=PLG-cTcBygJd1Ic5bmS4iv7PE-mOyv0C3P&index=1 (Abruf: 01.02.2022).

#HowToPop: „Interview mit Zara Akopyan“, 06.01.2022, in : Youtube, URL: https://www.youtube.com/watch?v=0As0z7EDm8Q&list=PLG-cTcBygJd1Ic5bmS4iv7PE-mOyv0C3P&index=3, 2022. (Abruf: 01.02.2022).

 Literaturverzeichnis

Commission of the European Communities (2001), Communication from the Commission: Making a European Area of Lifelong Learning a Reality, Brüssel.

Dohmen, Günther (2001), Das informelle Lernen: die internationale Erschließung einer bisher vernachlässigten Grundform menschlichen Lernens für das lebenslange Lernen aller, Bonn: Bundesministerium für Bildung und Forschung.

Gembris, Heiner (2009), Grundlagen musikalischer Begabung und Entwicklung, 3. Auflage, Augsburg: Wißner-Verlag (=Forum Musikpädagogik; Bd. 20).

Harring, Marius; Witte, Matthias D.; Burger, Timo (2018), „Informelles Lernen: Eine Einführung“, in: Handbuch informelles Lernen: Interdisziplinäre und internationale Perspektiven, hrsg. v.  dens., Weinheim/Basel: Beltz Juventa, S. 12–25.

Hemming, Jan (2009), „Autodidaktisches Lernen, Motivation und Innovation. Eine Dreiecksbeziehung im Bereich populärer Musik?“, in: Vom wilden Lernen. Musizieren lernen – Auch außerhalb von Schule und Unterricht, hrsg. v. Natalia Ardila-Mantilla u. Peter Röbke, Mainz: Schott Music, S. 61–78.

Hurrelmann, Klaus; Ulich, Dieter (1998), „Gegenstands- und Methodenfragen der Sozialisationsforschung“, in: Handbuch der Sozialisationsforschung, hrsg. v. dens., Weinheim: Beltz, S. 3–20.

Kleinen, Günter (2008), „Musikalische Sozialisation“, in: Musikpsychologie. Das neue Handbuch, hrsg. v. Herbert Bruhn, Reinhard Kopiez u. Andreas C. Lehmann, Reinbeck: Rowohlt Taschenbuch Verlag, S. 37–66.

Livingstone, David W. (1999), „Informelles Lernen in der Wissensgesellschaft: Erste kanadische Erhebung über informelles Lernverhalten“, in: QUEM-Report Kompetenz für Europa. Wandel durch Lernen – Lernen durch Wandel: Referate auf dem internationalen Fachkongress, 1999 (=Heft 60), S. 65–91.

Neuhoff, Hans; de la Motte-Haber, Helga (2007), „Musikalische Sozialisation“, in: Musiksoziologie, hrsg. v. dens., Laaber: Laaber-Verlag (= Handbuch der Systematischen Musikwissenschaft; Bd. 4), S. 387–417.

Seifert, Robert (2018), Popmusik in Zeiten der Digitalisierung. Veränderte Aneignung – Veränderte Wertigkeit, Bielefeld: transcript Verlag.