In knapp zwei Monaten beginnt die Fußball-Weltmeisterschaft 2018 in Russland. Die Fußball-Fans fiebern weltweit aufmerksam dem Turnier entgegen und selbstverständlich hoffen die deutschen Fans auf eine Titelverteidigung ihrer Nationalelf. Dennoch wurden mindestens seit der Krimkrise 2014 die Stimmen laut, das internationale Sportfest zu boykottieren. Die Skripal-Affäre, die Rolle im syrischen Bürgerkrieg oder die zahlreichen, vermutlich russischen, Hackerangriffe sind wie Wind in den Segeln der BoykottbefürworterInnen. Schnell werden historische Vergleiche mit den olympischen Spielen 1936 in Berlin angestellt und darauf hingewiesen, dass man ein politisches Statement setzen muss. Ihnen gegenüber stehen BoykottablehnerInnen, zumeist SportfunktionärInnen oder SportlerInnen, die betonen, dass der Sport stets unpolitisch war und keinesfalls politisch instrumentalisiert werden sollte, da dies der sportliche Tradition widerspricht. Beide Lager beziehen sich auf historische Ereignisse und Entwicklungen. Grund genug einen Blick in die Sportgeschichte zu werfen und der Frage nachzugehen, wie politisch der Sport war, ist oder vielleicht sein sollte.
Im Gegensatz zum Turnen hatte der frühe Sport im Deutschland des ausgehenden 19.Jahrhunderts nur eine kleine gesellschaftliche und politische Bedeutung. Er war zunächst nur eine Freizeitbeschäftigung des wohlhabenden deutschen Bürgertums. Dies änderte sich zur Jahrhundertwende. Der Sport und die Sportveranstaltungen gewannen zunehmen an Beliebtheit bei der Bevölkerung. Der Adel und die Monarchie erkannten diese Entwicklung und begannen ihr Engagement im Sport auszubauen. Zum einen nahmen sie aktiv als ZuschauerInnen oder sogar SportlerInnen teil und erhofften sich damit, ihre Stellung und Macht in der Gesellschaft zu festigen und zu charismatisieren. Zum anderen wurden internationale Sportveranstaltungen, wie zum Beispiel die Sechstage-Rennen mit Elementen des Nationalismus aufgeladen, um dem Sport auch eine außenpolitische Bedeutung zu geben. Das steigende Engagement der „oberen Kreise“ wurde von SportfunktionärenInnen und SportlernInnen zwar diskutiert, jedoch nahmen sie es letztendlich zu Gunsten von Gewinn- und Profitmaximierung dankend an. Unterbrochen vom Ersten Weltkrieg, steigerte sich die politische Einflussnahme auf den Sport in der Weimarer Republik bis zur völligen politischen Vereinnahmung im „Dritten Reich“. Bemerkenswert hierbei ist, dass die Politik zwar Einfluss ausübte, jedoch in der Sportgeschichtsschreibung nahezu ungeprüft angenommen wurde, dass die beabsichtigten Wirkungen auch eingetreten sind. Insbesondere das eingangs erwähnte Beispiel der Olympischen Spiele 1936 in Berlin lieferte eine Forschungskontroverse darüber, ob die gewünschten Effekte der innenpolitischen Solidarisierung und des außenpolitischen Prestigegewinns erreicht wurden.
Auch nach dem Zweiten Weltkrieg lassen sich politische Momente im Sport festmachen. Die Olympischen Spiele waren Teil des unablässigen Vergleichs zwischen Ost und West. Das Fußball- Freundschaftsspiel 1950 gegen die Schweiz öffnete dem außenpolitisch isolierten Deutschland wieder das internationale Parkett, ohne das kein „Wunder von Bern“ möglich gewesen wäre. 1968 bekundeten der Erst- und Drittplatzierte des 200-Meter- Laufs während der Siegerehrung ihre Sympathie mit der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Oder denken Sie an die feierwütigen und gut gelaunten isländischen Fans, die 2016 ganz Fußball-Europa begeisterten und durch ihre „Hu!“-Rufe Island zumindest kurzzeitig in ein besseres Licht, als das der Bankenkrise und Korruption stellen konnten. Auch der Breitensport erfuhr ab den 1960er Jahren zunehmend biopolitische Bedeutung. Das Paradigma „Sport für alle“, welches in den 1960er Jahren im Europarat verankert wurde, ließ zahlreiche gesundheits- und freizeitorientierte Angebote entstehen. Darunter auch die bekannten „Trimm-Dich- Pfade“. Diese unvollständige Aufzählung an Beispielen zeigt vor allem eines: Die Entwicklung des Sports im 20. und 21. Jahrhundert verlief nicht gänzlich unpolitisch. Der Sport stand stets in einer Beziehung zu politischen Interessen unterschiedlichster Akteure. Die eingangs zitierte „Eigenwelt-Theorie“ des Sports entpuppt sich somit vielmehr als eine immer wiederkehrende „Lebenslüge“ des Sports. Doch ist dies ein Grund, die sportlichen Veranstaltungen zu boykottieren und sich ihnen entgegen zu stellen? Gehört die Diskussion über den Zusammenhang von Sport und Politik nicht irgendwie sogar dazu? Pierre Bourdieu beschreibt den Sport als „relativ autonomes“ Feld innerhalb des gesellschaftlichen Feldes. Folgt man dieser Beschreibung, so lässt sich die Diskussion um den Sport auch als Diskussion über die moralischen oder politischen Werte und Normen der jeweiligen Gesellschaft sehen. Ist es nicht genau das, was zivilgesellschaftlich erwünscht und erstrebenswert ist?
Ein Beitrag von Sven Siemon.
Sporthistoriker und Doktorand im Arbeitsbereich Zeitgeschichte.