„Systemsprenger“

Ein Film des letzten Jahres vereinte das breite Kinopublikum und Pädagogikinteressierte. Das Kino wurde zu einem Schauplatz einer dramatischen Geschichte, die berührte. Es handelt sich hierbei um den auch auf Netflix verfügbaren Film der deutschen Produzentin Nora Fingscheidt „Systemsprenger“ (2019) (https://www.netflix.com/watch/81071573?trackId=14170286&tctx=2%2C0%2C2ce241d9-e7d3-463a-b8dd-a8fc8cef2ff8-22897159%2C4a14c232-0d48-4221-be5f-fb1bdf98dc98_16925064X3XX1594646053421%2C4a14c232-0d48-4221-be5f-fb1bdf98dc98_ROOT%2C). Wie der Titel schon verrät, wird sich in diesem Drama mit einem sogenannten „Systemsprenger“ auseinandergesetzt (hier als weibliche Hauptdarstellerin!). Die Zuschauerin/der Zuschauer begleitet die neunjährige Benni auf ihrem Weg durch verschiedene sozialpädagogische Einrichtungen und erfährt einiges über die Gründe ihres Verhaltens. Doch was genau macht Benni zu einem „Systemsprenger“?

Anna Schwarz (Von Studierenden für Studierende)

Systemsprenger werden Kinder und Jugendliche genannt, die sämtliche Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, wie z.B. Wohngruppen, Schulen oder Beratungssysteme durchlaufen haben, doch nirgendwo eine dauerhafte Unterkunft oder Unterstützung finden. Es handelt sich dabei also um Kinder oder Jugendliche, die sich nicht in das aktuelle Hilfesystem integrieren lassen. Es gibt jedoch auch Definitionen, die sich nicht auf die Person, sondern auf den dahinter liegenden Prozess des ‚Sprengens‘ von Systemen beziehen (https://www.deutschlandfunkkultur.de/paedagoge-ueber-systemsprenger-wie-schwierigen-kindern.1008.de.html?dram:article_id=457047). So betont der Pädagoge Menno Baumann, der das Filmteam von „Systemsprenger“ fachlich beraten hat: „‘Systemsprenger‘ sei eigentlich nicht der Begriff für das Kind, sondern ‚für einen Prozess, der zwischen dem Kind und dem Hilfesystem passiert.‘“ Das bedeutet, dass nicht das Kind in diesem Fall als Systemsprenger stigmatisiert wird, sondern die Handlungen und Gegebenheiten in dem es sich befindet, eine tragende Rolle für diesen Ausdruck des Verhaltens spielen.

Wenn man Bennis Lebenslauf nun einmal unter die Lupe nimmt und eine Skizze zu ihrer Person und ihrem Verhalten verfasst, um den Begriff „Systemsprenger“ nach seiner Berechtigung zu untersuchen, zeigt sich folgendes Bild: Bei Benni handelt es sich um ein intelligentes junges Mädchen (Kinderärztin: „IQ > 80“), welches zahlreiche soziale Einrichtungen, wie z.B. Wohngruppen und Schulen, durchlaufen hat. Häufig frequentierte Krisensitzungen, um Bennis weitere Unterkünfte und Verhaltensverbesserungen zu planen, werden mit Anwesenheit von Sozialarbeiter*innen, Lehrer*innen und dem Antiaggressionstrainer abgehalten. Die Mutter lässt sich bei den wichtigen Treffen bezüglich Bennis Zukunftsplanung nicht blicken. Sie ist mit dem Verhalten ihrer neunjährigen Tochter überfordert und befürchtet, dass auch Bennis kleinere Geschwister ihre Verhaltensmuster übernehmen könnten. Benni träumt jedoch davon wieder bei ihrer Mutter wohnen zu dürfen. Diesem Wunsch steht ihr Verhalten gegenüber. Benni reagiert schon bei geringen Reizen aggressiv und auch vor Drohungen, sich selbst etwas anzutun, schreckt sie nicht zurück. Ein Großteil ihres Verhaltens basiert auf einem „frühkindlichen Gewalttrauma“ und mangelnder Impulskontrolle (https://edoc.sub.uni-hamburg.de/haw/volltexte/2011/1411/pdf/WS.Soz.BA.AB11.33.pdf). Bei dem Gewalttrauma handelt es sich um eine frühkindliche physische, aber auch psychische Misshandlung: ihr wurden als Kleinkind Windeln ins Gesicht gedrückt (ab 9:55 min). Nur ihre Mutter darf ihr Gesicht berühren (gegen Ende des Films auch ein Baby), bei jedem anderen bekommt Benni Flashbacks und „sieht rot“. Sie fängt an, blind gewalttätig zu werden, wobei sie mit verschiedenen Gegenständen zuschlägt (z.B. Vase, Bobbycar, …) oder mit eigener Kraft verletzt (z.B. Kopf des anderen auf den Boden schlagen) („fight or flight“, https://edoc.sub.uni-hamburg.de/haw/volltexte/2011/1411/pdf/WS.Soz.BA.AB11.33.pdf, S.22). Wie schon erwähnt, können aber auch andere Auslöser aggressives Verhalten bei ihr hervorrufen, wie z.B. der Zwang zu einem Schulbesuch (ab 26:00 min) oder das Aufeinandertreffen mit dem Lebenspartner der Mutter (ab 20:43 min). Der Schulbesuch löst bei ihr beispielsweise eine hohe emotionale Reaktion aus. Sie trifft dort auf andere Kinder in ihrem Alter, die sich über sie lustig machen und sie absichtlich in Rage bringen. Schulverweigerung aufgrund von sozialen Problemen kommen häufig vor, da oftmals die Freunde motivierend auf Schüler*innen wirken und über andere Entmutigungen hinweghelfen können (https://www.praxis-jugendarbeit.de/jugend-probleme-themen/28-Schulverweigerung.html). Hier reagiert sie ebenfalls impulsiv und wird so z.B. mehrmals ins Krankenhaus gebracht, um medikamentös ruhig gestellt zu werden (ab 26:00 min). Auch im Alltag muss sie Medikamente zu sich nehmen. Anfänglich wurde ihre Dosis lediglich erhöht, doch als auch das keine Wirkung zeigte, bekommt sie nun ein Neuroleptikum für erwachsene Schizophreniepatient*innen. Diese wirken je nach Potenz antipsychiotisch oder sedierend. In Bennis Fall sollen diese impulshemmend wirken (https://www.therapie.de/psyche/info/index/therapie/psychopharmaka/neuroleptika/). Für therapierbar gilt Benni erst, wenn sie eine dauerhafte Bleibe hat.

Doch nicht nur aggressives Verhalten fällt bei Benni auf, sondern auch die Impulskontrolle gegenüber von ihr befundenen liebenswerten Menschen fällt schwach aus. So reagiert sie aus der Perspektive anderer übermütig oder aufdringlich, indem sie z.B. Micha (ihren Schulbegleiter) fragt, ob er ihr „Papa“ sein möchte (ab 1:12:50h) oder bei einer guten Nachricht der Mutter auf einem Tisch im Restaurant tanzt (ab 1:22:00h). Bei für sie fremden Menschen sucht Benni ständigen Kontakt oder Reaktionen, indem sie Passant*innen anspricht und bei ausbleibender Reaktion beleidigend reagiert (z.B. ab 5:33 min). Diese Aufdringlichkeit geht mit einer ständigen Distanzwahrung einher. So nennt sie z.B. Menschen in den sozialen Einrichtungen nicht bei ihrem Namen, sondern einfach nur „Erzieher*in“ (z.B. ab 7:33 min). Diese Reaktionen können verschiedene Gründe haben, so z.B. Bindungsstörungen in Form von Gewalterfahrungen, die Benni im frühen Kindesalter erlebt hat (https://edoc.sub.uni-hamburg.de/haw/volltexte/2018/4143/pdf/Traeder_Carina_Christin_BA_2018_01_10.pdf).

Benni ist kein zu stigmatisierendes Kind, sondern lebt unter Einflüssen aus ihrem Umfeld.  Insgesamt zeichnet sie sich aus einer Außenperspektive als „nicht tragbares Kind“ für das System aus, jedoch sensibilisiert der Film und es wird deutlich, dass der Begriff „Systemsprenger“ nicht nur auf das Kind bezogen ist, sondern auf einen Prozess und verschiedene Handlungen des Umfelds, welches das Kind durchlebt. Bennis Verlauf und Reaktionen gepaart mit den Handlungen der Menschen um sie herum ergeben, dass das System der möglichen Hilfemaßnahmen gesprengt wird.

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