a)
Auf welche umschriebene Teilleistungsstörung kann man schließen? Welche
Differentialdiagnosen sind zu beachten?
Laut den diagnostischen Kriterien nach ICD-10 leidet Timo aus dem angeführten Fallbeispiel an einer Isolierten Rechtschreibstörung.
Das bedeutet, dass sein Niveau im Bezug auf das Schreiben unter dem seines
Alters typischen und seiner Intelligenz und Beschulung zu Erwartenden liegt. Wie sein Deutschlehrer Herr Karasek deutlich macht, begründen sich Timos Fehlerquellen in Diktaten und Aufsätzen meist in Reversionen, das heißt einer Verdrehungen von Buchstaben im Wort, in Reihenfolge- oder Sukzessionsfehlern (Umstellungen von Buchstaben im Wort (die-dei)), durch Auslassungen
von Buchstaben, Einfügungen falscher Buchstaben (z.B. „Hende“ statt „Hände“), Regelfehlern, wie verdrehter Groß- und Kleinschreibung oder in Wahrnehmungsfehlern (t statt d). Laut seines Lehrers schreibt Timo weder so wie man spricht, noch zeigt er ein orthographisches Regelverständnis auf. Desweiteren beschreibt Herr Karasek, dass Timo seine Fehler meist ohne fremde Hilfe noch nicht einmal identifizieren kann, geschweige denn in der Lage ist diese eigenständig zu berichtigen. Vielmehr würde er beim Korrekturlesen zuvor richtig geschriebene Wörter nachträglich verfälschen. Nach dem Bericht des Lehrers über Timos Lese- und Sprechkompetenzen ist allerdings von einer Lese- Rechtschreibstörung abzusehen. Denn er sei zwar ein langsamer Leser, könne das Gelesene aber anschließend richtig und in eigenen Worten widergeben. Man sollte deshalb von einer schweren Leseschwäche, wie in den diagnostischen Kriterien beschrieben, Abstand nehmen, auch wenn Timo sicherlich einige Schwierigkeiten beim Lesen aufweist, die ihm besonders in mathematischen Textverständnisaufgaben behindert. Dennoch kann auch von einer Rechenstörung nicht die Rede sein. Sein Mathematiklehrer bescheinigt ihm ein gutes Verständnis für mathematische Operationen und Zusammenhänge.
Wichtig bei einer differenzierten Diagnose ist außerdem, dass man Timos (Lese-)Rechtschreibstörung abgrenzt zu einer Schwäche auf Grund einer Hirnschädigung oder einer Seh- bzw. Hörstörung. Dies geschieht im Fallbeispiel durch Timos Mutter, die Nichts von solchen körperlichen Behinderungen oder Schädigungen berichtet. Auch kann man von einer Intelligenzminderung absehen, da ihm beispielsweise vom Mathematiklehrer eine mathematische Begabung zu gesprochen wird und auch Timos Mutter in für begabt hält. Differenzieren muss man desweiteren zu einer LSS, die infolge emotionaler Störungen oder anderer psychischer Erkrankungen entstanden ist. Infolge fehlenden oder angemessenen Unterrichts entstandener Schwierigkeiten, wie zum Beispiel eines Analphabetismus fallen bei seiner Diagnose auch weg. Denn über solche Umstände berichtet die Mutter Nichts. Im Gegenteil spricht Timos Grundschulausbildung und seine Empfehlung zu einer Realschule gegen eine, auf solche Art und Weise entstandener Lesestörung.
b) Welche diagnostischen Schritte sind als nächstes sinnvoll?
Wichtig ist erst einmal, dass nun, nachdem der Deutschlehrer
einen Verdacht auf eine Rechtschreibschwäche bei Timo geäußert hat, so schnell
wie möglich eine differenzierte und wissenschaftlich anerkannte Diagnose erstellt
wird, um Timo anschließend optimal und schnellstmöglich zu fördern. Denn wenn
sich erst einmal ein größerer Rückstand im Schreiben aufgestaut hat, sind
Interventionsmaßnahmen sehr mühsam und zeitaufwendig.
In diesem beschrieben Fall ist eine Anamnese und Exploration einer Rechtschreibschwäche ja bereits zu mindestens grob erfolgt, in dem dem Deutschlehrer bewusst geworden ist, dass Timo Schwierigkeiten beim Schreiben hat und dies auch im Bezug auf seine Kollegen und Timos Mutter äußerte. Desweiteren erfolgte auch schon eine erste Befragung zu seiner Lebensgeschichte, bzw. seiner bisherigen Schullaufbahn. Trotzdem nach den Schilderungen der Mutter körperliche
Behinderungen oder Probleme auszuschließen sind, ist eine internistische und
neurologische Untersuchung von Timo im Folgenden dennoch nötig, um solch
beschriebenen Ursachenquellen mit völliger Gewissheit ausschließen zu können.
Diesen Untersuchungen würde dann im nächsten Schritt eine Testdiagnose folgen,
in der ein zertifizierter Intelligenztest, bzw. ein Standardisierte Lese- und
Rechtschreibtest mit Timo durchgeführt würde. Bei solch einem Rechtschreibtest,
bei dem es sich meist um einen Lückentext handelt, wird die
Rechtschreibeleistung in Beziehung zur Norm gesetzt, um so Abweichungen
festzustellen. Wichtig für eine Diagnose ist dann, dass bei der Testauswertung
das „Doppelte Diskrepanzkriterium “erfüllt ist. Dieses besagt das die Leistung
des betroffenen Schülers eindeutig weder alters- noch klassenmäßig in der
Norm und gleichzeitig mindestens 1,2 Standardabweichungen (zw. 1 und 1,5) unter dem durch den IQ erwarteten Wert liegt.
Erst dann kann eine Rechtschreibstörung diagnostiziert werden.
a) Welche Interventionsmaßnahmen bieten sich an?
Einer der wichtigsten Aspekte bei der Intervention ist die enge Zusammenarbeit zwischen betroffenem Schüler, Eltern und Schule, bzw. Lehrer. Neben der Therapie und Übung mit dem Schüler ist sowohl ein Elterntraining, das heißt eine Aufklärung, eine Erziehungsberatung und Hilfestellungen für eine zielgerichtete Hausaufgabenbetreuung, als auch ein Lehrercoaching und Maßnahmen an der Schule wichtig. Denn nur so ist eine globale und angemessene Förderung möglich. Desweiteren kann eine teilstationäre psychotherapeutische Intervention bei schwerer Begleitssymptomatik hilfreich sein.
In Timos Fall jedoch befinde ich das nicht für nötig, da keine weiteren
psychologischen Problematiken aufgetreten sind.
Allgemein lässt sich außerdem noch hinzufügen, dass eine ständige Orientierung am Entwicklungsstand und den individuellen Schwierigkeiten des Betroffenen essenziell ist.
Eine Intervention ist dann meist in drei Behandlungsaufgabenfelder unterteilt:
1.Gezielte Therapie des Lesens und Rechtschreibens
2.Unterstützung des Kindes bei der psychischen Bewältigung der bestehenden und gegebenenfalls bleibenden Lese- oder Rechtschreibschwäche
3.Behandlung der begleitenden psychischen Symptome (in Timos Fall, würde dieser Bereich meiner Meinung entfallen)
In der Schule lässt sich auf diesen Grundlagen mehrere Interventionsbereiche
ausfindig machen. So ist beispielweise ein Arbeiten mit Arbeitsmaterial,
welches auf die individuellen Stärken und Schwächen des Schülers abgestimmt ist
hilfreich. Desweiteren ist eine zweite Förderhilfskraft im Unterricht nützlich,
die dann gezielt mit dem betroffenen Schüler ein am Lernplan orientiertes Fördermaterial durcharbeitet und gezielt unterstützen kann. Um dies noch weiter zu
spezifizieren, besteht die Möglichkeit von spezifischen Förderunterrichten, in
denen Schüler mit Lese- Rechtschreibschwächen zusammen in Kleingruppen Material er- und bearbeiten. Eine weitere Form kann darüber hinaus auch ein
längerfristiger Intensivkurs mit ggf. einem Internatsaufenthalt sein, in dem
dann ganz gezielt und konzentriert an den Lernschwierigkeiten gearbeitet werden
kann.
Dennoch können außerschulische Behandlungen ergänzend und
sehr hilfreich sein. Dabei sind besonders die LRS-Therapien von Legasthenie-
oder Lerntherapeuten zu nennen, die es in fast jeder Stadt gibt und deren
Adressen bei Schulpsychologen zu erfragen sind. Vorsicht ist hierbei allerdings
geboten, da die Therapien sich teilweise stark in ihrer Art und Qualität
unterscheiden. Man sollte sich daher im Vorhinein gut informieren und auf
Ratschläge von Experten hören. Allgemein gibt es eine große Menge von Literatur
zu dieser Thematik und gut ausgearbeitete Förderprogramme, wie beispielsweise
die „Lautgetreue Lese- Rechtschreibförderung“ (Reuter-Liehr, 2000) oder „Kieler Lese- und Rechtschreibaufbau“ (Dummer-Smoch & Hackethal, 1993a, b) zu dem neben Lese-und Übungsheften, Spiele, Karteikarten und eine Software enthalten ist. Besonders für Rechtschreibschwierigkeiten geeignet und auf ihre Wirksamkeit getestet ist das „Marburger Rechtschreibtraining“ (Schulte-Körne & Mathwig, 2004). Bei diesem sollen die Kinder über einen Zeitraum von 2 Jahren systematisch Wissen über die wichtigsten Rechtschreibregeln erwerben. Bei dem Lernprozess werden besonders auch die Eltern mit einbezogen, welche das Lernen kontrollieren und begleiten sollen. Das Training verbessert nachweislich die Rechtschreibkompetenz (Die Fehlerquote verringerte sich von 40% auf 15%) und hat darüber hinaus einen positiven Effekt auf das Selbstwertvertrauen der Kinder.