Bildbetrachtung I: Affektstimulation barocker Kunst und Literatur

Die Beweinung Christi von Peter Paul Rubens & ein Auszug aus den Passionsbetrachtungen (1683) der Catharina Regina von Greiffenberg (1633-1694).

Peter Paul Rubens: Beweinung Christi. Um 1612, Vaduz-Vienna, LIECHTENSTEIN, The Princely Collections. Öl auf Leinwand: 150,5 x 203, 8cm.

„Ach sihe/ welch ein Mensch / mein herz! sihe / wie die dornen sein heiliges haupt zerrissen / daß es voll wunden und blut=bruennlein erscheinet ! Ach! Sihe/ wie seine edle aederlein krachen/ und als zerknirschte kirsche/ den schoensten Rubinen=saft ausspritzen! Sihe! Wie sich die bluts=tropfen und traenen miteinander vermischen/ daß es erz=klaeglich und jaemmerlich ist! Ach! Sihe die/ von den unbarmherzigen schlaegen/ braun und blau aufgeschwollene Backen/ des Helden aller Helden / ja des selbselbsten Gottes! Ach! Sihe / und zerbrich mein herz!“

Greiffenberg, Catharina Regina von: Des Allerheiligst- und Allerheilsamsten Leidens und Sterbens Jesu Christi, Zwölf andächtige Betrachtungen. Betrachtungen 1-8. In: Catharina Regina von Greiffenberg. Sämtliche Werke in zehn Bänden. Hrsg. v. Martine Bircher u. Kemp, Friedhelm. Bd. 9. unveränderter Nachdruck. Millwood/ N.Y.: Kraus Reprint 1983, S. 462.

Betrachtung der Bildelemente:

Wer die Broschüre der Ausstellung „Peter Paul Rubens und der Barock im Norden“ des Diözesanmuseums Paderborn in den Händen gehalten hat, wird sich sicherlich an das Bild erinnern: Die Rede ist von der „Beweinung Christi“, welches auf ca. 1612/14 geschätzt wird und mit Ölfarbe auf Leinwand aufgetragen wurde. Mit seinen Maßen von 151 cm Höhe und 204 cm Breite präsentiert sich dieses Werk allein aufgrund seiner Größe bereits eindrucksvoll. Der Titel „Beweinung Christi“ schreibt bereits einen Prozess der Trauer vor und keinen statischen Zustand. Dieser Begriff hat seit dem Spätmittelalter Konjunktur und ist tatsächlich nur indirekt eine aus der Bibel entlehnte Szene. In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhundert hatte bereits Andrea Mantegna den Leib Christi auf einem Marmorstein (später Salbstein) aufgebahrt dargestellt. Aus einer Sichtweise die direkt von dessen Füßen aufwärts blickt und seinen Oberkörper perspektivisch verkürzt wird der leblose Körper inszeniert.[1] Aber auch andere italienische Künstler, die später die Leidens- und Auferstehungsgeschichte eindrucksvoll in Skulpturen oder Gemälden inszenierten, dürften auf seiner Italien-Reise zu Anfang des 17. Jahrhunderts auf Rubens gewirkt haben.[2]

Bei dem betrachteten Gemälde ist die Perspektive ebenfalls von den Füßen aufwärts konzipiert, hier sind jedoch sowohl Körper als auch Bildelemente (wie die Trauernden) anders angeordnet. Der vom Kreuz Abgenommene, erkennbar an den Malen der Kreuznägel an Händen und Füßen, sowie der Seitenwunde, die halb verdeckt ist, liegt mit halb aufgerichteten und gestützten Oberkörper von der oberen linken Ecke der Leinwand in die rechte untere Ecke des Gemäldes reichend auf dem Salbstein. Ein weißes Leichentuch verhüllt seine Leistengegend und ist unter ihm ausgebreitet. Der Rest des Körper ist entblößt und präsentiert sich in einer gelblich-, fahlblauen Färbung, die auf sein kürzliches Sterben hindeutet. Er hängt mit seinem rechten Arm über der Person im linken Bildrand und hat den Mund leicht geöffnet. Der linke Arm hängt schlaff am Oberkörper herunter und die Hand ruht leicht geöffnet auf seinem linken Oberschenkel. Unter diesem linken Bein und Teilen des Leichentuchs ragen (vermutlich) Ähren bzw. Getreidegarben hervor. Hier sieht sich bereits die eucharistische Bedeutung des Todes Christi angedeutet. Das Leichentuch sowie der Körper Jesu bilden sowohl aufgrund der Positionierung im Gemälde selbst als auch in der hellen Farbgebung im Vergleich zur restlichen Farbwahl eindeutig den Mittelpunkt des Geschehens. Die linke Fußsohle ragt aufgrund der malerischen Ausgestaltung von Schattierungen und Positionierung dem Betrachter direkt entgegen, sofern er sich mittig vor dem Gemälde platziert. Die Wundlöcher der Kreuzigung sind nur leicht mit helleren und dunkleren Rottönungen in den Wundstellen versehen, es zeigt sich somit kein frei laufendes, gerinnendes Blut, sondern lediglich Blutflecken. Der inhaltliche Fokus liegt also nicht auf der Betrachtungen der Wunden, sondern eher auf der Wirkung von Körper/ Erlöser auf die Trauernden, die Christus direkt umgeben. Links steht, mit dem Leichentuch auf der Schulter und über dem Arm, Joseph von Arimathäa, der um Christi Körper bat. Er ist in ein dunkles und reich verziertes Gewand gehüllt und hält den oberen Teil des leblosen Körpers halb aufrecht, ohne ihn direkt zu berühren. Ein Mann höheren Alters, zu erkennen am gräulichen Bart und vermutlich als Nikodemus zu identifizieren, steht unmittelbar links hinter dem zuvor Genannten. Christus direkt berührend und seiner bläulich-hellgelben Gesichtsfarbe ähnelnd steht die Gottesmutter Maria in ein blauschwarzes Gewand gehüllt, welches ihr Haupthaar bedeckt. Sie ist halb über ihn gebeugt und schließt mit der linken Hand das linke Auge Jesu, die rechte Hand ruht an seiner Stirn und entfernt ihm einen Dorn aus dieser. Direkt hinter ihr und in ein auffallend karminrotes Gewand gehüllt präsentiert sich der heilige Johannes, auf dessen linker Wange eine Träne zu erkennen ist die, aufgrund der plastisch wirkenden Malerei, glänzend feucht auf das Auge des Betrachters wirkt.

Alle Blicke sind entweder auf Christus oder im Falle der älteren Marienfrau sowie der jüngeren im rechten Bildrand in Trauer zu Boden oder gen Himmel gerichtet. Der Hintergrund ist in dunklen Grautönen gehalten und unmittelbar hinter dem leblosen Körper tiefschwarz. Die dargestellten Personen sind entweder tief oder leicht gebeugt präsentiert, als würde die Trauer schwer auf ihnen lasten. Die ältere „Version“ der trauernden Marien ist so tief gebeugt, dass nur die gefalteten Hände und das von grauem Haar eingerahmte Gesicht zu erkennen sind. Eine jüngere Frau, ebenfalls in ein gräulich-blaues Gewand gekleidet, welches auch ihr Haar bedeckt, hält sich ein helles Tuch an das Gesicht und scheint ihre Tränen zu trocknen. Während die jünger wirkende Frau hinter ihr, die den Blick gen Himmel neigt, den Mund und die Augen in einem quälenden Gesichtsausdruck geöffnet hat und ihr bräunliches Haar offen trägt. Auch auf ihrer, zum Betrachter gewandten Gesichtsseite, lassen sich Tränen erkennen. Alle Gesichter sind sichtbar erhellt, bis auf das der im Hintergrund stehenden Gestalt, die sich im Schatten der Gottesmutter abzeichnet. Das Gesicht der Maria zeigt keine verzerrte-, sondern in stiller Demut ruhende Trauer und ist jung gestaltet. Sie zeigt nicht wie die gebeugte betende Gestalt Anzeichen höheren Alters. Die Stimmung der auf Leinwand präsentierten Personen lädt auf eine vergleichbare Gemütsebene ein und fügt sich so passend in den Titel Die Beweinung. Durch Farbgebung, plastisch wirkende Gesichter und Gewänder, erhält das Gemälde eine Dynamik, die sich im, im doppelten Sinne herausragenden, Jesus sammelt. Der leblos hängende, aber immer noch schöne Körper des Erlösers wird gehalten und durch das Sinnbild der Ähren durch seine eucharistische Funktion aufgewertet. Das größte Opfer, welches die Sünden tilgt, erfährt hier durch die aktiv vollzogene und anhaltende Trauer Wertschätzung und setzt sich in der Rezeption beziehungsweise der Trauer des Betrachters fort.

Ein Online-Beitrag der Neuen Westfälischen Zeitung beschreibt bereits die Programmatik des Gemäldes: „Rubens – das ist Pathos, das sind große Gesten und Emotionen, das sind ungewöhnliche Perspektiven, den Betrachter überwältigende, ihn hineinsaugende Bilder. So wie das um 1612 entstandene Werk ‚Beweinung Christi‘, in dem der tote Jesus auf einem Salbstein leicht diagonal zum Betrachter liegt und Maria mit der Hand sanft das linke Auge ihres Sohnes schließt.“[3] Nils Büttner ist in seinem Werk zu Leben und Kunst Rubens gleicher Meinung, wenn er schreibt: „Die ästhetischen Kriterien zur Beurteilung seiner Werke haben sich seither grundlegend gewandelt, doch blieb es bis auf den heutigen Tag vor allem die Affekte erregende Wirkung seiner Bilder, die ihre Anziehungskraft vor allem anderen ausmachte. Rubens‘ Aufstieg als Maler war nicht zuletzt dieser Bildwirkung geschuldet und dem sich in ihr bekundenden malerischen Geschick. Nichts haben schon die Zeitgenossen an seiner Kunst so eindringlich registriert wie deren Wirkung auf die Gefühle der Betrachter.“[4]


[1] Vgl. Die Kunst der italienischen Renaissance – Architektur, Skulptur, Malerei, Zeichnung. Sonderausgabe. Hrsg. v. Rolf Toman. Köln: Ullmann & Könemann 2007, S. 370f. [2] Vgl. Büttner, Nils: Rubens. München: C.H. Beck Verlag 2007, S. 62ff. [3] Artikel Westfälische Nachrichten. 23.07.2020, 17:48 von Dietmar Kemper. https://www.wn.de/Muenster/Kultur/4240046-Dioezesanmuseum-Paderborn-zeigt-die-Schau-Peter-Paul-Rubens-und-der-Barock-im-Norden-Tiefe-Emotionen-und-grosses-Pathos. Letzter Zugriff: 17.08.20. [4] Büttner, Nils: Rubens. München: Verlag C.H. Beck 2007, S. 64. Bildnachweis: LIECHTENSTEIN, The Princely Collections, Vaduz-Vienna. Website: http://www.liechtensteincollections.at/de/pages/artbase_main.asp?module=browse&action=m_work&lang=de&sid=87564&oid=W-1472004121953420220.

Auszug aus den Passionsbetrachtungen von Catharina Regina von Greiffenberg (1633-1694)

Was zunächst auffällt, ist der sechsmal wiederholte Imperativ „sihe“, welcher literarisch ein immer wiederkehrendes Schauen impliziert und ein Appell an die Imaginationskraft des Rezipienten ist, der sich nun die allseits bekannte Szene des leidenden und erniedrigten Jesus Christus vor Augen ruft, um die es bei diesem Ausschnitt der Passionsbetrachtungen von Catharina Regina von Greiffenberg geht. Das Werk wurde zunächst 1672 erstveröffentlicht und ist im Jahre 1682 ein zweites Mal in leicht korrigierter Fassung erschienen. Hier wird auf Textebene durch bildliche Sprache Emotion hervorgerufen und eine situative Stimmung evoziert, die den Rezipienten in der privaten Andacht unterstützt und im Rahmen protestantischer Frömmigkeitspraxis steht, die in der frühen Neuzeit stark verbreitet war. Interessant sind hier die verschiedenen Komposita von Substantiven wie „blut=bruennlein“ und „Rubinen=saft“, die einerseits die Wunden ästhetisch aufzuwerten scheinen, als auch für eine wiederholt bildhafte Komponente der Betrachtung sorgen. Wenn sich Blut und Tränen vermischen, bleibt nur noch explizit darüber zu klagen. Die Erwähnung des braun und blau geschlagenen Gesichts des Erlösers steht im Kontrast zu seiner Position als Held aller Helden und präsentiert sich als herzzerbrechendes Leid, das die Textinstanz mit dem Ausruf zu verlauten gibt: „Sihe / und zerbrich mein herz!“ Kunstgeleitetes- und poetisches Schauen entfalten hier auf jeweils charakteristische Weise ihre Wirkung und übertragen die Trauer auf den Rezipienten: „Sakrale Werke sollten nämlich einerseits durch die sachlich korrekte Argumentation die Gebildeten ansprechen und durch ihre Gestaltung des Kunstliebhabern genügen, andererseits aber auch durch eine emotional bewegende Darstellung die breite Masse erreichen, die dadurch zu Frömmigkeit und religiöser Erbauung bewegt werden sollte.“[1] Hier dürfte schlussendlich im Wesentlichen die Verbindung von Prosa und Kunst offenbar werden und das Potenzial interdisziplinärer Forschung hervortreten.


[1] Büttner, Nils: Rubens. München: C.H. Beck Verlag 2007, S. 64.

Dieser Beitrag wurde von Giulia Bahlow verfasst.