a) Auf welche umschriebene Teilleistungsstörung kann man schließen? Welche Differentialdiagnosen sind zu beachten?
Im Fall des elf-jährigen Timo ist mit großer Wahrscheinlichkeit eine Lese- und Rechtschreibschwäche zu diagnostizieren, wobei an dieser Stelle die kombinierte LRS von der isolierten zu unterscheiden wäre. Da sich aber das Lese-Rechtschreibdefizit von Timo nicht ausschließlich auf die Schreibfähigkeit beschränkt, sondern ebenfalls eine Beeinträchtigung seiner Lesefähigkeit vorliegt, können wir bei ihm mit einer kombinierten Schwäche rechnen.
Zu diesem Schluss kommt man leicht, betrachtet man die Merkmale seiner Störung, so wie Herr Karasek sie als Klassenlehrer schildert:
Was er bereits deutlich erkennt, sind orthographische Probleme, sowohl im Verhältnis zu Vokalen, egal ob lang oder kurz, Konsonanten, einfach, ebenso wie doppelt, aber auch große Fehleransammlungen in Diktat und Lückentext. Auch zeigt Timo im Unterricht eine Beeinträchtigung der Leseentwicklung, die sich in fehlerhaftem, langsamen, sowie mühevollem Lesen äußert. Anders als bei vergleichbaren Fällen, wirkt sich dies jedoch nicht auf das Leseverständnis des Schülers aus.
Fachlich diagnostiziert, erkennt man an seinem Beispiel eine Störung des phonologischen Bewusstseins. Timo mangelt es ganz offensichtlich an einer Einsicht in die Lautstruktur. Es gelingt ihm nur schwerlich, Wörter in Phoneme zu zergliedern und diese dann im Umkehrschluss wieder zu Wörtern zusammenzusetzen. Er scheitert an der Dekodierung und Repräsentation der Buchstabenfolge im Gedächtnis, was bedeutet, dass seine generelle Fähigkeit, schriftliche Symbole lautsprachlich zu rekodieren, defizitär ist und er dadurch bedingt sehr lange für diesen Vorgang benötigt. Dies kann mitunter auch den Zugriff auf sein semantisches Lexikon negativ beeinflussen, da es Schüler mit dieser Problematik meist schwer fällt, bedeutungshaltige von bedeutungsleeren Worten zu unterscheiden.
Das Beispiel Timo legt ebenso ein Defizit in der seriellen Benennungsgeschwindigkeit vor. Da der Deutschunterricht nicht das einzige Fach ist, das für ihn eine Hürde darstellt, ist davon auszugehen, dass seine Fertigkeiten, Zahlen und Gegenstandsbilder zu benennen, ähnlich wie das Vermögen beim Lesen von einem Wort aufs nächste „umzuschalten“, doch recht stark im Rückstand liegen. Die Buchstabenfolgen der Wörter im orthographischen Lexikon werden nicht schnell genug aktiviert, die zu leesenden Wörter dadurch nicht schnell genug erkannt. Timo hat also offenkundig Defizite in der Speicherung von Schriftwörtern, wodurch sich langsames Lesen und Rechtschreibfehler einstellen.
b) Welche diagnostischen Schritte sind als nächstes sinnvoll?
Zu den Methoden, die Herr K. bei seinem Schüler durchaus anwenden könnte, zählt zunächst die Würzburger Leise-Lese-Probe, die die Lesegeschwindigkeit von Schülern erfasst, in dem einem geschriebenen Wort ein passendes Bild aus jeweils vier möglichen zugeordnet werden soll. Es bestünde aber auch die Möglichkeit, Lückentextdiktate einzusetzen, oder die Variante des Salzburger-Lese- und Rechtschreibtests, der ganz generell zur Überprüfung des Leistungsstandes dient: Die Schüler werden konfrontiert mit der Behandlung unterschiedlich langer, unterschiedlich vertrauter Wörter, sowie mit sog. Pseudowörtern. Dabei wird bei der Rechtschreibung auf das lauttreue Schreiben ebenso geachtet, wie auf regelgeleitete, orthographische Korrektheit.
Die Fehler, die dabei gemacht werden, unterzieht man dann einer genaueren Analyse, die Hinweise auf Entwicklungsstand der/des Schüler/s und entsprechende Fördermaßnahmen gibt. Man sollte hier jedoch auch das schulische und familiäre Leseverhalten berücksichtigen und evtl. Defizite im Hör- und Sehvermögen und der Sprachentwicklung mit einbeziehen.
c) Welche Interventionsmaßnahmen bieten sich an?
Schüler wie Timo profitieren meist nicht von Lernangeboten, da ihnen das Lesen generell keinen Spaß bereitet. Sie deshalb jedoch mit weniger schriftlichem Material zu konfrontieren, stellte keine Hilfe dar – im Gegenteil. Gerade dadurch bewirkte man nur eine Vertiefung der Defizite, da mangelnde Übung zum Vergessen von bereits Gelerntem führt.
Desweiteren wird die Übung auch für andere Fächer benötigt, so zum Beispiel in Mathematik, zur Lösung von Textaufgaben oder ganz allgemein zur Aneignung von Weltwissen im Laufe der Schulzeit.
Auf gefährdete Schüler sollte daher schon möglichst früh aufmerksam gemacht werden, damit eine Förderung rechtzeitig einsetzen kann. Wenn sich Leistungsbereiche, in denen sie besondere Schwierigkeiten zeigen, herauskristallisieren, müssten diese so präzise wie möglich ermittelt und isoliert werden, und damit die Förderung individuell zugeschnitten.
Das Lesen und Schreiben der/des Schüler/s soll systematisch verbessert werden, orientiert am aktuellen Entwicklungsstand und der jeweiligen besonderen Schwierigkeiten. Besonders in Fällen, wie dem des elfjährigen Timo sollte au auf eine Förderung der Buchstabenkenntnis ebenso geachtete werden, wie auf die Einübung der Buchstabe-Laut-Zuordnung und die phonologische Re- und Dekodierung. Während dieses Trainings verhindert die Verwendung von Pseudowörtern, dass die Kinder schwierige Worte einfach überspringen oder sogar auswendig lernen.
Übungen dieser Art können auf unterschiedlichste Weisen durchgeführt werden, zum Beispiel durch spielerische Formen, unter Verwendung von Reimwörtern, Austausch von Vokalen, oder dem Vergleich ähnlich klingender Worte mit unterschiedlicher Bedeutung, um das Lautbewusstsein zu stärken. Vielleicht könnten bei Timos Problematiken auch sprechmotorische Übungen, oder solche zur Artikulation zur Besserung beitragen, oder – vom Lehrer sicher leichter anwendbar – lauttreue Diktate, die die Einübung phonetischer Kompetenzen subventionieren und vielleicht der ganzen Klasse als unterstützende Maßnahmen dienen könnten.
Im Hinblick auf das Gesamtkonzept des Unterricht böten sich auch immer wieder vereinzelte „Zusatzwerkzeuge“ an, wie Lese- und Übungshefte, Spiele, Karteikarten oder Lernsoftwares für solche, die bereits im medialen Bereich etwas fortgeschritten sind.
Grundsätzlich gilt jedoch bei allen Methoden: Zuerst kommt die Aneignung von basalen Fähigkeiten, dann erst die eine Erhöhung des Lesetempos – dies dient der Verbesserung des Verständnisses gelesener und geschriebener Worte.
Insbesondere hat die Leseförderung Vorrang vor der Schreibförderung, damit mangelnde Leseentwicklung nicht auch das Rechtschreiben gefährdet.